Wer bin ich und warum?

Mit der Typenlehre des Enneagramms versuchen Menschen sich selbst und andere zu verstehen. Ein Seminarbericht

Eine Reise nach innen - um sich selbst und andere besser zu verstehen. Das ist das Ziel eines Kurses im Geistlichen Zentrum Kloster Bursfelde an der Weser im südlichen Niedersachsen, zu dem Julia Gredor in einer kritischen Lebensphase sich angemeldet hat. Jetzt sitzt die 45-jährige leicht angespannt in einem großen Stuhlkreis mit zwanzig Menschen: „Ich muss mich neu orientieren, beruflich und vielleicht auch privat“ sagt sie in der Vorstellungsrunde. „Aber bislang habe ich noch keine Entscheidungen getroffen. Ich glaube, ich möchte erstmal mehr wissen, auch von mir selbst, wie ich eigentlich so ticke“. An diesem Wochenende will es die leise und eher zurückhaltende Frau hier versuchen, beim Seminar "Einführung in das Enneagramm".

 

Das Enneagramm gilt als eine alte christliche Weisheitslehre aus dem Orient. Seit einiger Zeit wird sie auch in der christlichen Seelsorge und in der geistlichen Begleitung eingesetzt. Ziel ist es, durch ein neues Verständnis für die eigenen Kräfte, Motive und Versuchungen eine spirituelle Entwicklung anzustoßen und letztendlich zu einem erlösteren Menschen zu werden.

 

Das Modell beschreibt drei leiblichen Energiezentren: Herz, Kopf und Bauch. Diesen zugeordnet werden neun (griechisch ennea) Grundmuster, nach denen Menschen fühlen und handeln. Die Wurzeln des Enneagramms reichen weit zurück. Schon der christliche Wüstenmönch Euagrios Pontikos formulierte im 4. Jahrhundert eine Lehre von acht Leidenschaften und versuchte damit die Menschen, die in seelischer und geistiger Not zu ihm kamen, besser zu verstehen. Auch islamische Sufis haben solche oder ähnliche Typologien vermutlich verwendet. Richtig bekannt wurde das Enneagramm hierzulande aber erst seit den 1990-er Jahren durch die Publikationen des Franziskaner-Paters Richard Rohr und des lutherischen Pfarrers Andreas Ebert. Richard Rohr, ein US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln, wurde 1970 in das Enneagramm von einem Mitglied des Jesuitenordens eingeführt, wo man es als „Geheimlehre“ in der Seelsorge eingesetzt hatte.

 

Ihre dunklen Augen hat Julia Gredor, die eigentlich anders heißt, aber ihren Namen nicht in der Zeitschrift lesen möchte, fest geschlossen. Die Reise zu sich selbst beginnt beim Enneagramm-Seminar, das das Ehepaar Inge und Ludger Temme in Bursfelde leitet, mit einer  Imaginationsübung. Man soll sich spüren und inneren Bildern folgen. „Nimm dein Herz körperlich wahr. Hörst du, wie es regelmäßig schlägt?“ fragt Ludger Temme mit warmer, freundlicher Stimme. „Und fühlst du dich hingezogen zu anderen Menschen, vom Herzen her?“ Temme, der sonst als Geschäftsführer in einem Altenheim der Diakonie arbeitet, gibt solche Seminare zweimal jährlich zusammen mit seiner Frau, einer Lehrerin. Weiter führt die imaginierte Reise in den Kopf und schließlich in den Bauch. Liebt man es, mit Augen und Ohren genau zu beobachten und bietet das Denken Überblick und Freiheit? Oder spürt man Kraft und Lust im Bauch, sind Autonomie, auch Macht wichtige Ziele im Leben? Alle Seminarteilnehmer werden aufgefordert zu spüren, wo in ihrem Körper sie sich sicher und zu Hause fühlen. Bin ich ein Herz-, ein Kopf- oder ein Bauchtyp? Dieses ist die erste Frage.

 

Für Julia Gredor, eine schlanke, eher nachdenkliche und zurückhaltende Frau, die seit vielen Jahren in der Erwachsenenbildung tätig ist, wird dabei schnell klar: Ihr Kopf ist es, auf den sie sich zweifellos verlassen kann. Durch Denken findet sie die notwendige Orientierung und es macht ihr Freude, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen, viel wahrzunehmen, zu beobachten, zu wissen. Auch die meisten der anderen Teilnehmer, zwölf Frauen und fünf Männern, verstehen mit solchen und ähnlichen Übungen im Laufe des Einführungsseminars mehr und mehr, zu welchem der drei Energiezentren sie gehören. Die meisten bringen einfach ihre Themen und Konflikte mit, zum Beispiel in der Partnerschaft oder im Beruf, als Arzt, als kleiner Angestellter, als selbständiger Coach, als Arzthelferin. „Bei meiner Arbeit in der Leitung einer Notaufnahme im Krankenhaus habe ich sehr viel mit Menschen zu tun, mit Patienten und Kollegen. Vielleicht kann das Enneagramm mir helfen, diese Menschen leichter zu verstehen“, sagt der lässig und jugendlich wirkende Arzt, der über 350 Kilometer gefahren ist, um dieses Seminar zu besuchen. Andere haben Bücher übers Enneagramm gelesen und wollen es nun genauer kennenlernen. „Ich möchte wissen, welches mein Muster ist, so dass ich damit persönlich etwas anfangen und handeln kann“ sagt dazu ein eher schüchterner, rundlicher 50-jähriger Mann.

 

Sich selbst, seinen Lebensweg und den anderen Menschen offen, spielerisch und doch mit echtem Interesse betrachten – dafür bietet das Enneagramm vielfältige Möglichkeiten. Das Besondere daran: Es orientiert sich eindeutig auf den christlichen Glauben und bringt die christlichen Überlieferungen in kluge und erhellende Verbindung mit den heutigen Erkenntnissen aus Psychologie und Psychotherapie. Aus psychologischer Perspektive ist das Enneagramm eine Methode zur Selbsterkundung, die Religion und Glauben als Ressource des Menschen nutzbar macht. Auch beim Vokabular wird das deutlich. Psychische Zwänge und Fehlhaltungen nennt man in der Sprache des Enneagramms „Wurzelsünde“ und „Umkehr“ meint eigentlich nichts anderes als die Schritte in Richtung des Therapieziels. „Erlösung“ heißt beim Enneagramm die  Gesundung, die man letztlich nicht machen kann, die Heilung, die immer auch Geschenk ist. Beim Enneagramm ist klar: Diese Gabe kommt von Gott.

 

Am Abend des zweiten Tag, viele Rollenspiele und einige Gespräche später, fällt bei Julia Gredor der Groschen: Ja, ich bin eine Fünf. Plötzlich fügt sich das Bild. Da ist ihr ständiger Wunsch nach mehr Ruhe und freier Zeit, die sie möglichst ungestört verbringen möchte, in der sie die vielen Eindrücke, die sie im Alltag aufnimmt, nochmal anzuschauen, bedenken und in eine innere Ordnung bringen kann. Die 45-jährige spürt jetzt genauer, was an ihrem Beruf sie als zehrend erlebt:  „Es sind nicht eigentlich die Menschen, die mich stressen, sondern der Strudel von Gefühlen. Es sind so viele Ereignisse, denen ich mich ausgesetzt fühle, während ich im Unterricht bin und auch noch danach.“  Wenn dann abends oder am Wochenende ihr Partner Aufmerksamkeit wolle und gemeinsame Unternehmungen vorschlage „ bin ich hin und hergerissen, manchmal würde ich am liebsten die Flucht ergreifen, am besten auf eine einsame Insel“ sagt Julia Gredor und lacht dabei ein wenig über sich selbst. 

 

„Wir sind Gottes Kinder – wir wissen es nur noch nicht“ sagen Inge und Ludger Temme, die dieses Seminar auch als ein Teil des Programms des Ökumenischen Arbeitskreis Enneagramm (ÖAE) anbieten. Am Sonntagmorgen laden sie in die Klosterkirche ein. Sorgfältig und liebevoll haben sie für jeden der neun Typen einen besonderen Platz in dem romanischen Kirchengebäude vorbereitet. Von Station zu Station geht die zwanzigköpfige Gruppe, singt und betet, dankt und bittet für Menschen, die dieses Musters tragen. Der Platz für die Fünf: weit oben auf der Empore. Julia Gredor muss schmunzeln, als sie dort steht. Na klar, hier ist es ruhig, man hat einen guten Überblick, kann neue Perspektiven entdecken. Ein Beobachtungsposten, ein guter Platz! 

 

Die Seminarleiter sprechen auch über „die Einladung an die Fünf.“ Man möge die alte Holztreppe hinuntergehen, dorthin wo das Leben spiele, wo es Gefühle und auch mal Gewusel gebe. Die Fünf könne sich dort entwickeln und einbringen mit ihren Gaben. Julia Gredor kennt solche Sätze, bislang hat sie sie meistens als Forderung gehört. Diesmal ist es anders: Beim Enneagramm-Seminar wurde mit Offenheit und Akzeptanz geschaut, wie sie ihrem Wesen nach ist. „Das hier stimmt mich positiv und macht neugierig, wie es weitergehen könnte“ zieht sie ein erstes vorsichtiges Resümee. „Veränderung könnte ja spannend sein und Entwicklung Freude machen.“ Beim Enneagramm, so hat sie erfahren, ist das möglich, ja sogar vorgesehen. Denn hier ist klar: Auch wenn der Weg manches Mal steinig und mühevoll ist - die Gaben im Menschen, Gottes Gaben sind längst da. Es gilt nur noch, sie freizulegen .

 

Publik Forum Nr. 2      25. Januar 2019