»Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, heißt es im Vaterunser. Muss man also ständig vergeben? Ist man der Liebe Gottes nur würdig, wenn man in gleichem Maße vergeben kann wie wir das von ihm erhoffen?
Ja, meint Thomas Gerlach, Pfarrer in Kassel und Betreiber der Online-Dogmatik, einer Webseite zum evangelischen Glauben. Für ihn ist klar, dass »wir solche Freundlichkeit und Milde auch weiterzugeben haben an die, die uns etwas schulden.« Deshalb dürfe man anderen Menschen Vergebung nicht verweigern. Der 52-jährige Pastor fordert: »Versöhnt mich Gott mit ihm, so kann er erwarten, dass ich auch meinem Mitmenschen die Hand zur Versöhnung reiche.«
Das sei »kein hilfreicher Weg«, meint dagegen Wolfgang Lenk, der seit über 25 Jahren in der Nordkirche als Seelsorger und Meditationslehrer wirkt. Solche Pflichtgebote seien »dogmatisch moralisierend« und wirkten auf dem Weg zur Versöhnung »eher erschwerend«. Lenk versteht die christliche Botschaft als eine, »die den Druck rausnimmt«. Seiner Ansicht nach ist es ein Ausdruck von Vertrauen, im Gebet Gott als »Vater unser« persönlich anzusprechen. Im Vaterunser wende man sich bittend an Gott – mit all seinen Verstrickungen, Verfehlungen und seiner Schuld. Aber möglicherweise könne man beim Gebet »spüren, dass da eine Kraft ist, die helfen könnte zu vergeben«.
Kann der christliche Glaube es also leichter machen zu vergeben? Ja, meint Constanze Thierfelder, Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar in Herborn. Sie sagt, hinter der Vorstellung vom Jüngsten Gericht stehe »die Idee, dass ich nicht der bin, der alles zurechtbringen muss, sondern dass eine höhere Macht für Gerechtigkeit sorgt.« Im Vertrauen, dass »ich nicht die letzte Instanz bin«, kann es leichter fallen, Unrecht zu vergeben.
Mit vielfältigen Angeboten von Seelsorge und geistlicher Begleitung unterstützen die großen christlichen Kirchen Menschen bei Versöhnungsprozessen. Christliche Seelsorge und weltliche Psychotherapie berühren sich dabei. So arbeiten Seelsorger häufig auch mit psychologischen Methoden und verweisen, wenn sie an ihre Grenzen kommen, auf professionelle psychotherapeutische Hilfe.
Mittlerweile erkennen auch zunehmend Ärzte und Psychotherapeuten den Glauben als Ressource. So hielt Konrad Stauss, jahrzehntelang ärztlicher Direktor der Psychosomatik-Klinik in Bad Grönenbach im Allgäu, einen »intensiven Dialog zwischen Psychotherapeuten und Theologen« für wünschenswert. Er gründete ein »Netzwerk für Vergebungs- und Versöhnungsarbeit«, in dem heute noch Psychotherapeuten, Coaches, katholische und evangelische Seelsorger zusammenarbeiten. Die für Patienten so heilsame Vergebung habe einen »spirituellen Ursprung«, sagte Stauss. Vergeben-können sei Gnade und ließe sich keinesfalls in einem Therapieplan verordnen: »Der christliche Weg zur Veränderung geht über das Kreuz, durch die Wunde und den Schmerz.«
Publik Forum Nr. 6 23. März 2018