Die Qual der Wahl

In der modernen Gesellschaft können Menschen vieles selbst entscheiden. Aber das macht auch Stress. Wissenschaftler erforschen Methoden, wie man zu guten Entscheidungen kommt.

Soll ich den Job kündigen und mir einen anderen suchen? Soll ich diesen Mann wirklich heiraten? Will ich ein Kind bekommen? In unserer komplexen Gesellschaft, die viele verschiedene Optionen bereitstellt, nimmt die Zahl der Entscheidungen, die jede und jeder Einzelne treffen muss, ständig zu. Das ist einerseits eine neue Freiheit, weil es ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, wie es in der menschlichen Geschichte nur selten gegeben war. Aber die vielen Entscheidungen sind auch anstrengend – weil man für sein Leben dann allein verantwortlich ist. Und weil man sich da immer wieder fragen kann, ob man nicht doch noch etwas Besseres hätte finden können. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual.

 

Gibt es erprobte Wege und Methoden, an denen man sich in solchen Wahl-Situationen orientieren, mit denen man Entscheidungen gut treffen kann?

 

In Psychologie, Philosophie und Kognitionswissenschaft wird derzeit intensiv zu diesem Thema geforscht. Dort unterscheidet man einfache und schwere Entscheidungen. Bei einer einfachen Entscheidung reicht eine simple Abwägung der Alternativen. Etwa beim Fahrradkauf: Fährt man längere Strecken? Hat man Lasten zu transportieren? Je nach Bedarf gibt es verschiedene Modelle und mit guter Beratung wird man mit Sicherheit ein Rad finden, das auf die eigenen Bedürfnisse passt. Schwere Entscheidungen wie die Wahl des Studienfachs oder des Ehepartners haben dagegen existentielle Auswirkungen auf das ganze Leben.

 

Die Brüder Chip und Dan Heath, zwei Psychologieprofessoren aus den USA, haben ein Modell mit hilfreichen Schritten für den Prozess bei solch existentiellen Entscheidungen vorgestellt. Den ersten Schritt nennen sie »Weiten«: Danach soll man zunächst nach mehreren Wahlmöglichkeiten Ausschau halten. Wenn man etwa beruflich unzufrieden ist und Veränderung sucht, sei es nicht sinnvoll, alles auf die Frage »Bleiben oder kündigen?«, also auf ein Entweder - Oder zu reduzieren, meinen die Heaths. Stattdessen raten sie dazu, den inneren Suchscheinwerfer bewusst umherschweifen lassen und möglichst viele Möglichkeiten anzuschauen. Das Weiten könnte in diesem Fall bedeuten, auch Teilzeitverträge, Partnerschaften mit anderen Selbständigen oder Tätigkeiten als »fester Freier« in Betracht zu ziehen. Dabei sei es hilfreich, mit Menschen zu sprechen, die ein ähnliches Problem schon einmal erfolgreich bewältigt haben.

 

Den zweiten Schritt nennen die Professorenbrüder »Realitätsprüfung«. Zunächst stellen sie den Entscheidern die Frage: Was passt gut zu dir – was weniger? Gibt es eine emotionale Tendenz? Zugleich warnen sie hier vor der Gefahr der Selbstbestätigung, die den Betroffenen häufig bei der richtigen Wahl im Wege steht. Die Heaths beziehen sich hier auf Erkenntnisse des Sozialpsychologen Daniel Kahnemann, der sein Forscherleben den typischen kognitiven Verzerrungen gewidmet hat: Danach sehen und hören Menschen oft nur das, was zu den eigenen Vorlieben, Bequemlichkeiten und Weltanschauungen passt. Durch diese Tendenz, die er »Selbstbestätigung« nennt, werden Informationen, die weg vom Gewohnten weisen, unbewusst zurechtgebogen und uminterpretiert. Die Realität vor einer Entscheidung zu prüfen bedeutet deshalb, sich auch mit dem zu beschäftigen, was Ängste, Unbehagen, Zweifel und inneren Widerspruch auslöst.

 

Zu einer Realitätsprüfung gehört es dann auch, die angestrebte Veränderung ganz konkret und praktisch zu erproben. Zum Beispiel aus der Festanstellung heraus wie ein Freiberufler einige Aufträge zu akquirieren. Oder ein paar Monate nur von dem Geld zu leben, das man voraussichtlich verdienen würde, wenn man in Teilzeit arbeitet.

 

Der dritte Schritt nach Heath heißt »Abstand schaffen«: Hat man ausreichend Informationen beschafft, die Alternativen erkundet und ihre Realitätstauglichkeit geprüft, kommt die Zeit für freundliche Distanz. Man vollzieht einen Wechsel der Perspektiven nach innen, befragt und betrachtet sich selbst, seine persönlichen Überzeugungen und Werte und stellt sie in Beziehung zu den Wahlmöglichkeiten.

 

Dass all diese Schritte – mehrere Alternativen suchen, inneren Abstand finden und eine vertiefte Selbstbefragung – bei wichtigen Lebensentscheidungen wertvoll sind, erkannte vor fünfhundert Jahren bereits Ignatius von Loyola. Der Ordensgründer der Jesuiten schuf dafür eigens einen spirituellen Weg der Entscheidungsfindung, die sogenannten »ignatianischen Exerzitien« (siehe Interview).

 

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Bremer Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth, indem er den Wert der Intuition bei der Entscheidungsfindung betont. Intuition könne Menschen helfen, neue Informationen mit den bisherigen Erfahrungen abzugleichen. Dabei sei eine Kombination von Verstand und Gefühl am sinnvollsten. Zunächst, sagt Roth, solle man versuchen, die Fragestellung »rational zu durchdringen soweit es geht. Dann sollte man den Mut aufbringen, die Dinge ruhen zu lassen, um nach dieser Pause intuitiv zu entscheiden.«

 

Die Philosophieprofessorin Ruth Chang, die an der Universität Oxford zum Thema forscht, empfiehlt, nach den inneren Gründen für eine bestimmte Entscheidung zu suchen: Welche Art von Mensch kann ich mit dieser Entscheidung sein oder werden? Dabei müsse man ein realistisches Selbstbild haben und ehrlich erkennen, welche Person man authentisch sein kann. Für den Wechsel im Job bedeutet das etwa: Wer eher zurückgezogen lebt und schüchtern ist, würde sich mit dem Entschluss, ein agiler erfolgreicher Freiberufler zu werden, heillos überfordern.

 

Was macht eine schwere Entscheidung schließlich zu einer guten Wahl? Vor allem auch das, was man anschließend für sie tut. Ruth Chang betont, dass die gewählte Alternative nach der Entscheidung immer die wertvollere sei, weil sie nun die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und das Leben ausmache. Man solle engagiert und motiviert auf dem gewählten Weg weitergehen und auch bei Problemen und Widerständen dabei bleiben: »Wenn wir uns hinter eine Option stellen«, sagt sie, »gehen wir eine Liebesbeziehung mit ihr ein.«

 

Dennoch gilt: Man muss nicht auf ewig dabei bleiben. Kommt es zu Veränderungen, die inakzeptabel, abstoßend und nicht veränderbar sind, kann man die Selbstverpflichtung lösen. Dann muss man sich neu orientieren und erneut darüber nachdenken, wofür man stehen und sich einsetzen kann. Auch bei einer nach allen Regeln der Kunst getroffenen Entscheidung bleiben stets Unwägbarkeiten, die man nicht berechnen kann: gesellschaftliche Umbrüche, unvorhersehbare Ereignisse – und im besten Fall eine gute Portion Glück.

Publik Forum Nr. 19       8. Oktober 2021