Der Angst ins Auge schauen

Die kognitive Verhaltenstherapie ist die am weitesten verbreitete Therapieform. Damit lassen sich viele seelische Störungen rasch und kostengünstig beheben. Sie bekämpfe aber nur die Symptome und nicht die Ursachen, behaupten Kritiker. Doch auch die Verhaltenstherapie hat mittlerweile die Gefühle entdeckt.

 

Es ist Samstagmittag, die Sonne scheint, und vor dem Stadion des Fußballvereins SC Preußen Münster drängeln sich die Fans. Bierdunst hängt in der Luft, und einige der Fußballfans beginnen zu rempeln, weil alle so schnell wie möglich rein wollen. Nur einer würde lieber sofort wieder wegrennen: Sven Peters (Name geändert) schwitzt, sein Herz rast und seine Knie zittern. An den Einlasskontrollen, wo es besonders eng ist, steht er mit seinem Psychotherapeuten. Dieser fordert ihn auf, seine Angst bewusst zu spüren. Denn das Bad in der Menschenmenge ist ein Teil der Verhaltenstherapie, die Sven Peters macht.

 

Es ist ein besonderes Merkmal dieses Verfahrens, dass man dabei nicht nur in aufgeräumten Praxisräumen sitzt, sondern sich auch vor Ort den Situationen aussetzt, die die Krankheitssymptome auslösen. Die Verhaltenstherapie ist hierzulande das am häufigsten praktizierte therapeutische Verfahren, sie wird von allen Krankenkassen anerkannt und bezahlt. Mit vielen auch in verschiedenen Ländern durchgeführten wissenschaftlichen Studien wird ihre Wirkung belegt, sie gilt als effizient. Schon innerhalb kurzer Zeit – so ihre Vertreter in Berufsverbänden und Universitäten – erreiche man bei richtiger Anwendung der Methode beachtliche Erfolge.

 

Aber die Verhaltenstherapie wird auch infrage gestellt und kritisiert. Besonders die Vertreter der Psychoanalyse werfen dieser therapeutischen Richtung vor, sie schaue eher oberflächlich auf eine Veränderung des Verhaltens und behandle damit ausschließlich die Symptome der seelischen Störung. Die tief liegenden Ursachen seelischer Konflikte würden dagegen kaum in den Blick genommen, deshalb komme es oft zu Rückfällen.

Aber ist diese Warnung noch aktuell? Die Verhaltenstherapie hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt und ihre Methoden ausdifferenziert. Was darf man erwarten, wenn man sich heute in eine Verhaltenstherapie begibt?

 

Türen auf für neues Verhalten

Sven Peters arbeitete als Betriebswirt erfolgreich in einem Unternehmen der Elektronikbranche, aber in seinem Privatleben geriet er immer wieder in Angstzustände. Er fürchtete sich davor, in ein Menschengedränge zu geraten, aus dem er nicht mehr fliehen könnte. Selbst das Einkaufen im Supermarkt wurde für ihn zur Qual. In der Schlange vor der Kasse geriet er in Panik. Peters ging kaum noch aus, selbst Kinobesuche waren nicht mehr möglich. Seine Freundin schlug Alarm: So könne es mit ihm nicht weitergehen. Als die Trennung drohte, entschied sich der 28-Jährige, Hilfe zu suchen – und rief bei Benno Lewe an. Gleich in der ersten Stunde stellte der Psychotherapeut die Diagnose: Sven Peters hatte eine Agoraphobie, eine Angststörung, die an bestimmten Orten und in speziellen Situationen ausgelöst wird. Dahinter steht die Furcht vor Kontrollverlust und meistens ein Lebensgefühl, ganz alleine, ohne Unterstützung, auf sich selbst gestellt zu sein.

 

Lewe ist Leitender Psychologe an einer Psychiatrie-Klinik in Bochum und Dozent der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) in Münster. Die wesentliche Annahme seiner therapeutischen Richtung lautet: Gefühle, Gedanken und Verhalten beeinflussen sich wechselseitig. Aber Gefühle sitzen tief und lassen sich nur schwer verändern. Den Zugang zu ihnen sucht man daher in der Kognitiven Verhaltenstherapie – wie sie vollständig und korrekt heißt – vor allem über die Kognitionen, also Gedanken, Einstellungen, Bewertungen und Überzeugungen. Wenn ein Patient im Laufe der Therapie allmählich erkennt, dass die schreckliche Katastrophe, die er sich so oft vorstellt, doch nicht eintritt, dann öffnet dies Türen für neues, mutiges Verhalten und für positive Emotionen. »Man ist aktiv und verändert sein Verhalten. Es ist ein powervolles Verfahren«, sagt Benno Lewe über die Verhaltenstherapie.

 

Als Väter der Kognitiven Verhaltenstherapie gelten die amerikanischen Psychologen Albert Ellis und Aaron T. Beck. Unabhängig voneinander schufen sie in den 1960er-Jahren aus Unzufriedenheit über die langwierigen, stets an der Vergangenheit orientierten Psychoanalysen ein neues Therapieverfahren. Dessen Basis ist der Behaviorismus (englisch »behavior«, Verhalten). Dieses wissenschaftliche Modell aus den 1950er-Jahren erklärt jegliches Verhalten von Menschen und Tieren, indem es in Reiz und Reaktion zerlegt wird. Danach wird jedes Verhalten erlernt. Es kann aber auch wieder verlernt und durch neues Verhalten ersetzt werden.

 

In der Verhaltenstherapie werden frühere Erfahrungen des Patienten zwar als Auslöser des Leidens in den Blick genommen, der Schwerpunkt der Betrachtung liegt aber auf der gegenwärtigen Lebenssituation des Patienten, in der es aufrechterhalten wird.

 

"Man sucht eine starke Exposition"

Als Sven Peters im Gedränge vor dem Fußballstadion steht, ist diese Situation mit Bedacht gewählt. »Man sucht eine starke Exposition«, erklärt sein Therapeut Benno Lewe. »Der Patient kommt dabei in einen Zustand, den er sonst stets vermeidet.« Während Sven Peters vor dem Stadion in Panik gerät und glaubt, sein Herz bliebe gleich stehen, erkundigt sich sein Therapeut ganz zugewandt, aber doch eher sachlich, wie hoch er seinen momentanen Angstpegel einschätzt. Und er fordert ihn auf, die Realität, in der er sich befindet, genau zu beschreiben. »Da sind Männer und Frauen, sie begrüßen sich laut«, antwortet der Patient. »Sie drängeln ins Stadion, ganz dicht, hier müssen sie ihre Bierflaschen abgeben …« So hat er kaum Gelegenheit, sich seinen Katastrophenszenarien hinzugeben, sondern erkennt eine konkrete, ungefährliche Situation. Auch körperlich tritt allmählich eine Beruhigung bei ihm ein. Denn der physische Stress, der beim Fluchtreflex eintritt, baut sich mit der Zeit von alleine wieder ab. Sven Peters erlebt in dieser Situation zum ersten Mal, dass er eine Angstattacke nicht nur irgendwie überlebt. Mit Hilfe seines Therapeuten stellt er sich der Angst und spürt: Sie lässt allmählich nach. Sie geht weg. Zum ersten Mal seit Langem spürt er innere Kraft. Er hat über seine Angst gesiegt. Er macht die Erfahrung, dass er stärker sein kann als sie.

 

Ist die Verhaltenstherapie für jeden gut? Oder gibt es Menschen und Problemlagen, wo das Verfahren an seine Grenzen kommt? »Da, wo es komplexer wird«, sagt Benno Lewe, der auch als Dozent und Supervisor in der Ausbildung von Psychotherapeuten tätig ist. Geeignet sei Verhaltenstherapie für klar umrissene Beeinträchtigungen, zum Beispiel bei Angst, Depression oder Zwangsstörung. Aber bei Borderline-Persönlichkeitsstörung und bei somatoformen Störungen, wenn der Patient auch körperliche Symptome hat, ohne dass sich dafür organische Gründe finden lassen, sei das Repertoire der Verhaltenstherapie nicht ausreichend. Ein anerkennender und verstehender therapeutischer Umgang mit den Gefühlen des Patienten sei dann notwendig.

 

Seit 1990 hat sich die Verhaltenstherapie in dieser Hinsicht in Theorie und Praxis verändert. Schaute man bei der Kognitiven Verhaltenstherapie zuvor besonders auf die Gedanken und Überzeugungen, gewannen nun solche Verfahren an Gewicht, bei denen der Fokus auf einer inneren Achtsamkeit liegt. Aus neueren neurobiologischen Untersuchungen gewann man die Erkenntnis, dass die Einflüsse von Gefühlen auf die Gedanken viel stärker sind als umgekehrt. Deshalb wird der Patient nicht nur angeregt, über seine Gefühle zu sprechen, er wird auch ermuntert, sie bewusst wahrzunehmen und ihre Bedeutung in seinem Lebenszusammenhang zu verstehen. »Die Verhaltenstherapie lernt fühlen«, spotteten damals die Vertreter anderer Therapierichtungen. Mittlerweile haben sich die meisten Verhaltenstherapeuten methodisch breiter aufgestellt und ihr Spektrum mit anderen Verfahren wie Trauma-Therapie oder Schema-Therapie erweitert.

 

Warum wird mir schwindlig?

In die Praxis von Benno Lewe kam eine Lehrerin, die an plötzlichen Schwindelanfällen litt. Mit diesem Leiden war sie zuvor ergebnislos von Arzt zu Arzt gepilgert – organische Ursachen gab es offenbar nicht. Lewe, der nicht nur als Verhaltenstherapeut, sondern auch in Gesprächspsychotherapie und in modernen emotionsfokussierten Verfahren ausgebildet ist, arbeitete mit ihr vor allem an der Qualität einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung. Auch die Vorstellung des »inneren sicheren Ortes«, eine Methode aus der Traumatherapie, wurde für die Patientin wichtig. »Es ging um das Akzeptieren und Verstehen der nur schwer verstehbaren Ängste«, sagt ihr Therapeut. Schließlich zeigte sich: Der Schwindel trat immer dann auf, wenn die Lehrerin Angst vor Kontrollverlust hatte. Das geschah häufig in der Gegenwart von Männern, denen sie sich unterlegen fühlte. Schließlich wurde es möglich, das Trauma aufzudecken, das die Ursache der Schwindelanfälle war: Als Kind war die Patientin von einem Onkel sexuell missbraucht worden. Als dieser Onkel alt geworden war, erwartete ihre Herkunftsfamilie, dass sie sich an seiner Pflege beteiligte. In diesem Moment traten die Schwindelanfälle erstmals auf.

 

Wenn heute noch einmal Schwindelanfälle auftauchen, hält die Patientin inne und fragt sich: Wie ist die Situation? Warum wird mir schwindlig? Sie hat gelernt, ihr Symptom selbst zu deuten. Sie ist nicht frei von den Anfällen, aber sie kann klar darauf reagieren und verständnisvoll mit sich umgehen.

 

Publik Forum Nr. 22            18. November 2016