"Es war wild und schön"

Elke Kuhagen (59) hat vor vierzig Jahren das Hüttendorf in Gorleben mit aufgebaut. Bis heute protestiert sie gegen das Atommülllager.

Elke Kuhagen (59), Textildesignerin in eigener Werkstatt

Protokoll: Gunhild Seyfert

 

"Die Tage der Freien Republik Wendland haben mich und mein ganzes Leben stark geprägt. Als die Freie Republik Wendland von hunderten von Menschen aus dem Widerstand gegen das Atommülllager in Gorleben vor vierzig Jahren ausgerufen wurde, war ich dabei. Ich komme aus dem Wendland, bin hier geboren und lebe bis heute hier. Damals war ich 19 Jahre alt, hatte Schneiderin gelernt, gerade das Abitur nachgeholt und lebte in einer Wohngemeinschaft in Trebel. Ein Dorf, drei Kilometer von der Tiefbohrstelle 1004 entfernt, wo der Salzstock von Gorleben auf seine Eignung als Endlager unterirdisch erkundet werden sollte. Anfang Mai 1980 zogen wir mit Treckern und zu Fuß auf einer Demonstration dorthin. Wir hatten den Plan: Nach der Demonstration gehen wir nicht nach Hause, sondern wir richten uns hier ein.

Wir bauten dort ein großes Hüttendorf auf dem sandigen Boden. Die Häuser waren aus Holz, Lehm und Strohballen. Es gab viel handwerklich-technisches Können und reichlich Kreativität. Ich habe mitgebaut am Gemeinschaftshaus in der Mitte des Dorfes und auch beim großen Küchenhaus. Ich war viel unterwegs, habe Baumaterial besorgt, zum Beispiel Nägel und Stroh. Es gab auch  Menschen, die sich mit Sonnenenergie und Windkraft auskannten. Ein besonders schöner Moment war, als ich einmal bei Sonnenaufgang zur Solardusche ging und tatsächlich warmes Wasser kam! Manchmal bin ich zum Duschen auch nach Hause gefahren, ich wohnte ja nur drei Kilometer entfernt. Aber wenn man wegging, war da immer die Angst, nicht mehr zurückzukommen, weil die Polizei jederzeit den Zugang absperren konnte.

Bauern spendeten Gemüse und Kartoffeln, es gab Essensspenden von allen Seiten. Wir waren in dörflicher Umgebung, man kennt sich hier, man versorgt sich gegenseitig. „Die hat wohl ´ne Meise!“ dachten sicherlich viele Nachbarn meiner Eltern aus meinem Heimatdorf. Sie hatten dort den Dorfladen und wurden wegen mir oft bedauert. Ich sah eben gar nicht so aus wie ein Mädchen, das bald heiraten und die Rolle einer Frau auf dem Lande übernehmen würde. Aber versorgt wurde ich trotzdem.

Ich habe auch an der Passstelle am Schlagbaum gearbeitet. Nachdem wir die Republik Freies Wendland am 3. Mai 1980 ausgerufen hatten, stellten wir die Pässe aus. Außen grün, mit einer orangefarbenen Sonne drauf, innen wie ein Passdokument gestaltet und mit Polaroid-Foto. Für zehn D-Mark konnte man den Pass erwerben. Alles war wild und schön. Auf 1004 habe ich entdeckt, dass es viele Menschen gibt, die sich ein anderes Leben vorstellen können und dass ich Möglichkeiten habe, mein Leben zu gestalten. Hier habe mich stark und richtig gefühlt, weil ich mich einbringen konnte mit meinen Fähigkeiten.

Solidarität war das hervorragende Gefühl. Es gab eine verbindende Sache, die dramatisch wichtig war. Auch die Gefahr der Räumung hat viel Zusammenhalt gebracht. Die ganze Zeit über haben wir spekuliert, was uns dann passieren würde. Wir diskutierten viel und entschieden, dass wir gewaltfrei bleiben. Dann, am Morgen des 4. Juni, waren da tausende von Polizisten, mit Schild und Schlagstöcken, die Gesichter geschwärzt unterm Helm. Helikopter kreisten dicht über das Hüttendorf. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ein Hubschrauber über mich fliegt. Radio Freies Wendland hat permanent gesendet. Die Räumung zog sich lange hin, hunderte von Menschen wurden einzeln weggetragen und dann von der Polizei eingekesselt. Alles war von Stress und Angst geprägt. Die Polizei sperrte das Gelände und machte mit Bulldozern alle Hütten und Häuser, wirklich alles platt.

Heute bin ich Textilgestalterin mit eigener Werkstatt in einem für das Wendland typischen  Rundlingsdorf.  Im Widerstand gegen das Lager für Atommüll blieb ich immer aktiv. Mit acht Frauen habe ich viele Jahre in einer Gruppe gearbeitet, die zusammen mit Rechtsanwälten Strategien entwickelte, wie man sich klug verhält angesichts der möglichen strafrechtlichen Folgen unseres Widerstands. Zum Beispiel bei Blockaden, der Besetzung der Schienen bei einem Castor-Transport.  Auch einen Demo-Ratgeber haben wir entwickelt.

Ich arbeite seit vielen Jahren auch im Gorleben-Archiv. Regelmäßig sichte ich dort alte Dias und dokumentiere, von wann und wo die Aufnahme stammt, wer zu sehen ist, welche Aktion das war. Ich scanne die Dias und archiviere sie. Ich kann diese Bilder zuordnen, ich war ja von Anfang an dabei im Widerstand."

 

Publik Forum Nr. 10                                    29. Mai 2020