Wirbelnde Abwasser

Klärwerker kennen sich aus mit Infektionsgeschichten. Hygiene wurde immer großgeschrieben. Aber gegen Chemie und Plastik kommt die Technik kaum an

Um die die Mittagszeit treffen zerfledderte Gurken- und Kartoffelscheiben ein. In den Abendstunden benutzte Kondome. Das Abwasser, das hier in die erste Halle am Beginn der Kläranlage einfließt, stammt aus einem mehr als tausend Kilometer langen unterirdischen Kanalnetz in Osnabrück. Millionen von Litern rauschen über große metallene Rechen, in denen der gröbste Schmutz hängen bleibt. Die Wasserpumpen dröhnen, es riecht faulig. Wie ist es möglich, dass diese schmutzige Brühe voller Fäkalien und Fett, Sand und Dreck, Plastik und Chemie überhaupt wieder sauber wird?

 

Dass die Wasserwirtschaft zur »systemrelevanten Infrastruktur« unseres Landes gehört, wird jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie besonders deutlich. Nie war Hygiene so wichtig. Und anders als viele andere Institutionen kann eine Kläranlage nur teilweise vom Home Office aus betrieben werden.

 

»Es liegt bei uns jetzt ein gewisser Ernst in der Luft«, sagt Michael Brunschön zur aktuellen Lage, »aber keine Angst«. Der vierzigjährige Abwassermeister gehört zum Bereitschafts-Team der Kläranlage und kontrolliert täglich die gesamte Anlage. »Wir Klärwerker kennen uns gut aus mit Infektionsgeschichten. Wir gehen da mit Ruhe ran.« In der Kläranlage Osnabrück werden die Abwässer von 170 000 Einwohnern, Industrie und Gewerbe entsorgt. Auch in normalen Zeiten herrschen hier wegen der Belastung des Wassers mit Bakterien strenge Hygiene-Regeln: Wer auf dem Außengelände arbeitet, trägt gelb-schwarze Schutzkleidung und wäscht sich anschließend sorgfältig die Hände. Die Mitarbeiter duschen noch im Betrieb, bevor sie nach getaner Arbeit nach Hause gehen.

 

Im zweiten Schritt fließt das Abwasser in den »Sand- und Fettfang«, wie die großen rechteckigen Becken in der Fachsprache heißen. Hier wird das Wasser in rotierende Bewegung gebracht. Dadurch setzen sich an seiner Oberfläche links und rechts dünne weißliche Fettschichten ab. Feiner Schmutz und Sand sinkt auf den Boden des Beckens. Das Fett wird gelagert und kommt später in die Biogasanlage, die daraus Wärme und Strom erzeugt. Recycling wird groß geschrieben auf jeder Kläranlage.

 

Doch mehr als durch Fett und Fäkalien wird das Wasser ausgerechnet durch eine wachsende Flut an Haushaltsreinigern belastet. »Abwasser wird immer mehr zu einer Chemiebrühe«, sagt Michael Brunschön mit Bedauern in seiner Stimme. Er arbeitet seit über zwanzig Jahren hier und sieht die Entwicklung mit Sorge. Aggressive Fettlöser von Spül- und Reinigungsmitteln, Duftstoffe aus Waschmitteln, Weichspülern und Kosmetik, Rückstände von Medikamenten, Plastik und viele neue unbekannte Stoffe aus Haushalt, Industrie und Gewerbe stören die fein ausbalancierten mechanischen, biologischen und chemischen Prozesse auf der Kläranlage. Die Folge: Nur circa achtzig Prozent der Fracht des Abwassers wird heutzutage in den dreistufig arbeitenden Kläranlagen tatsächlich gereinigt. Die restlichen zwanzig Prozent, vor allem Reste von Fetten, Plastik, Chemie und Pharmazie, gelangen in die Flüsse und beeinträchtigen dort Pflanzen und Tiere.

 

Nach dem Sand- und Fettfang fließt das Wasser in das zwanzig Hektar große Freigelände der Anlage. In trichterförmigen Vorklärbecken wird das Wasser ruhig, die schwere Fracht aus den Toiletten kann sich setzen. Die Fäkalien sinken zu Boden, und das Toilettenpapier zerfällt in seine Fasern. »Wir haben durch Corona nicht mehr Klopapier in der Anlage als sonst« sagt Klärwerker Brünschön in Anspielung auf die verbreiteten Hamsterkäufe und lacht. »Es gibt keine Verstopfung oder so.« Fäkalien und gewöhnliches Toilettenpapier sind für eine Kläranlage einfach zu entsorgende Stoffe. Nicht jedoch das von der Werbung als besonders sauber angepriesene feuchte Toilettenpapier. Dessen Fasern zerreißen nicht beim Wischen – und auch nicht in der Kläranlage. Die Feuchttücher müssten deshalb über die Abfalltonne entsorgt werden, aber ein Hinweis darauf findet sich auf den Verpackungen nicht. So verstopft feuchtes Toilettenpapier die vielen Pumpen der Kläranlage, und Mechaniker und Elektriker verbringen viele Arbeitsstunden nur damit, verstopfte Pumpen zu zerlegen, die Verstopfungen zu entfernen und die Pumpen anschließend wieder zusammenzubauen.

 

Auf die mechanische Säuberung folgen mehrere biologische und chemische Reinigungsstufen. Eine Armada von Bakterien baut in riesigen Becken vor allem Nährstoffe ab: Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor. Messgeräte überprüfen ständig, ob die Prozesse fehlerfrei laufen oder beispielsweise eine Zufuhr von Sauerstoff nötig ist. Falls ja, schalten sich automatisch Belüfter ein. Hier arbeiten zwar Milliarden von Bakterien, aber die Luft auf dem Gelände riecht rein. In Osnabrück liegt eine Wohnsiedlung in unmittelbarer Nähe zur Kläranlage, die soll weder durch schlechte Luft noch durch lärmende Motorpumpen beeinträchtigt werden.

 

Schließlich fließt das Wasser in kreisrunde, fünf Meter tiefe Nachklärbecken. Der Schlamm aus Bakterien, der zuvor einen ganzen Tag in dem Wasser gewirkt hat, setzt sich hier ab. Nach getaner Arbeit werden die Bakterien abgepumpt, ein Teil von ihnen geht wieder zurück zum Anfang der biologischen Klärstufe, der Rest in die Biogasanlage. Denn beim Fressen der vielen Nährstoffe aus dem Abwasser hat sich der Bakterienschlamm vermehrt. In der Biogasanlage wird auch er zu Wärme und Strom, die die Kläranlage rund um die Uhr verbraucht.

 

Der entwässerte, gepresste und getrocknete Klärschlamm, der zuletzt übrig bleibt, wird zu Dünger für die Landwirtschaft. Reich an Stickstoff, Phosphor, Kalium, Kalk und Spurenelementen wie Kupfer und Zink ist er eigentlich ein wertvolles organisches Düngemittel. Doch Abwassermeister Brunschön greift nach einem der vielen dunkelbraunen Brocken und deutet auf weißlich-graue Einsprengsel: »Das ist Plastik«, sagt er mit unüberhörbarem Seufzen. Plastik ist nicht abbaubar, auch in einer Kläranlage nicht. Und der Klärschlamm enthält noch weitere problematische Stoffe: Schwermetalle, Mikroplastik, Arzneimittelrückstände.

 

Stockenten und Schwäne schwimmen auf drei großen Teichen, Kanada- und Graugänse rasten am Ufer. Am Ende zeigt sich die Osnabrücker Kläranlage in einer weiten, erholsamen Landschaft. Läge da nicht ein dezenter, leicht fauliger Geruch in der Luft. Er kommt von der Verwirbelung des Wassers, hier setzen sich letzte Trübstoffe ab. Schließlich fließt das Wasser in den Osnabrücker Fluss Hase. Das Wasser aus dem Zulauf wirkt klar. Doch mit ihm fließen auch - für das Auge nicht sichtbar - Mikroplastik, Arzneimittelrückstände, Reste von Fetten und Chemikalien aus Haushalten, Gewerbe und Industrie in den Fluss. Das liegt daran, dass in Deutschland Produkte in den Verkauf kommen können, deren Abbaubarkeit in Kläranlagen nicht gewährleistet ist. Abwassermeister Brunschön erläutert: Auch wenn »biologisch abbaubar« auf einer Verpackung stünde, hieße das nicht, dass die Inhaltsstoffe innerhalb von ein bis zwei Tagen vollständig abgebaut seien – aber das ist die Zeitspanne, in der das Abwasser die Kläranlage durchläuft.

 

»Ich habe hier das Gefühl, als Azubi wichtig zu sein«, sagt der 24-jährige Maurice Schwalbe, der hier in der Anlage eine Ausbildung zur »Fachkraft für Abwassertechnik« macht. Abwasser- und Wasserversorgungstechnik sind Berufssparten mit Zukunft, und die Ausbildung ist anspruchsvoll. Während der Corona-Krise dürfen jetzt aber nur noch zwei der Auszubildenden tagsüber vor Ort sein. Praktischer Unterricht in Gruppen ist nicht mehr möglich.

 

Mehr als vierzig Männer und Frauen halten den Betrieb der Kläranlage auch jetzt aufrecht. Abwassermeister Brunschön arbeitet mit »einer stark ausgedünnten Belegschaft« vor Ort, viele Kollegen sind im Homeoffice und Besprechungen gibt es nur noch per Videokonferenz. Die Mitarbeiter der Anlage wurden aufgeteilt in Teams, die sich persönlich nicht begegnen. Im Fall, dass ein Mitarbeiter sich infiziert und seine Kontaktpersonen in Quarantäne müssen, ist der Betrieb damit gesichert. Mit ruhiger und selbstbewusster Stimme erklärt Klärmeister Michael Brunschön, dass sein Werk sicher durch die Krise kommen wird. Es ist ja schließlich systemrelevant.

 

Publik Forum Nr. 8                              30. April 2020