"Yoga ist wie Pizza"

Die schlichte mönchische Praxis aus Asien wurde auf ihrem Weg in den Westen mit vielen fremden Zutaten versehen und so für Millionen von Menschen attraktiv

Die übergewichtige Friseurin, die den ganzen Tag im Stehen arbeitet, macht es und sagt: „Ich gehe zum Sport.“ Der durchtrainierte Student der Betriebswirtschaft macht es und sagt: „Das ist gut für meine Beweglichkeit und Entspannung.“ Die Pastorin, eingespannt in viele Aufgaben in ihrer Gemeinde, atmet tief aus und sagt: „Einfach herrlich, hier spüre ich meine Lebendigkeit.“ Yoga hat Hochkonjunktur. Über elf Millionen Deutsche haben Erfahrung mit Yoga, es sind überwiegend Frauen. Was suchen und was finden sie da?Geht es bei Yoga um Bewegung, um Wellness oder gar um Religion? Was ist Yoga eigentlich?

  Das Angebot an Yoga-Kursen ist mittlerweile fast unüberschaubar: Da gibt es Hatha-Yoga und Kundalini-Yoga, Faszien-Yoga und Power-Yoga, Hormon-Yoga, Jivamukti-Yoga und noch viel mehr. Yoga-Kurse werden an Volkshochschulen und im Fitness-Studio angeboten, in Hotelanlagen,  in Klöstern und in Yoga-Schulen. Das Internet findet man Übungs-Videos für Computer, Tablet oder Smartphone und Yoga-Blogs, denen monatlich tausende von Menschen folgen.

Eigentlich braucht man für Yoga- Übungen nur eine Matte und bequeme Kleidung, aber längst gibt es den angesagten Yoga-Style: Man zeigt den biegsamen Körper in engen Leggins und schulterfreiem Sportleibchen. Dazu passt die Mala, eine Gebetskette aus Holzperlen, oder auch ein spirituelles Tattoo.

Obwohl das Geschäft mit Yoga boomt, genießt es den Ruf, die persönliche spirituelle Entwicklung zu fördern. Yoga, so liest man in zahlreichen Büchern, Artikeln und auf Webseiten, sei aus der jahrhundertealten Tradition der hinduistischen Religionen überliefert  -  ein uraltes  Erfahrungswissen. Die Übungen für Körper und Atem, Geist und Seele sollen nicht nur die körperliche Gesundheit fördern sondern auch die innere Harmonie und die persönliche spirituelle Entfaltung. Es gibt aber Kulturhistoriker und Religionswissenschaftler, die diesen religiös-historischen Hintergrund anzweifeln und erklären: Yoga ist keineswegs so alt wie gemeinhin angenommen.

  Aber was passiert da eigentlich konkret? An einem Morgen in der Yoga-Schule Osnabrück liegen 16 Frauen zwischen 30 und 70 Jahren auf ihren Matten. Zuvor hat Yoga-Lehrerin Brigitte Jung-Wilke, eine dynamische Frau mit rot-braunem Lockenkopf, mit den Teilnehmerinnen des Kurses über eine Stunde lang die Kobra, den Hund und andere "Asanas", wie man im Yoga die Körperübungen nennt, geübt. Damit sollen sie beweglicher und stärker werden und lernen, ihren  Körper achtsam wahrzunehmen. Auch zu Pranayama, die Atemübungen des Yoga, leitet Brigitte Jung-Wilke die Teilnehmerinnen in ihren Kursen regelmäßig an. "Schau in dich hinein" sagt die Leiterin dann, als die Frauen nach einer Stunde Übungen ruhig auf dem Rücken liegen und alle Anspannung so weit wie möglich loslassen.

„Mit Yoga kommt man in Berührung mit sich selbst“, sagt die dynamische Lehrerin, die seit knapp 25 Jahren Yoga unterrichtet. „Man spürt seinen Körper, den Atem, den Augenblick und die geistig-mentale Ebene.“  Wichtig ist der Lehrerin, dass in ihren Gruppen kein Leistungsdruck aufkommt. „Unsportliche oder auch dicke Menschen, die sich oft ausgegrenzt fühlen, machen dann eine wichtige Erfahrung. Sie merken: Ich kann das ja auch!“

 

"Yoga ist hip"

  Das sehen auch die Krankenkassen so. Mit 150 Euro pro Jahr beteiligen sich die Gesetzlichen Krankenkassen an den Kosten von Kursen zur Gesundheitsvorsorge. Frauen und Männer aus unterschiedlichen Milieus kommen so in Kontakt mit Yoga. Viele bleiben dabei. Lehrerin Jung-Wilke freut sich darüber, sieht den modernen Hype um Yoga allerdings kritisch: „Heute ist das ein Massenboom, Yoga ist hip. Wenn Yoga im Namen steht, verkauft es sich besser“, sagt sie mit bedauerndem Unterton. Yoga ist nach indischer Tradition eine Vorbereitung auf die Meditation, denn die Übungen lenken die Achtsamkeit auf Körperhaltung und Atemgeschehen. Brigitte Jung-Wilke bietet auch Einführungen in die Meditation an. Die Nachfrage ist allerdings bescheiden. „Meditation ist bei den Leuten nicht so beliebt“ stellt sie nüchtern fest.

  Yoga ist wie Pizza. Diesen Vergleich zieht der amerikanische Kulturhistoriker Mark Singleton. So wie die einfache Pizza aus Napoli sich auf ihrem Weg nach den USA und Nordeuropa gründlich verändert habe, so habe auch Yoga sich weit von seiner Heimat entfernt, viele Einflüsse aufgenommen und sich gründlich verändert. Ursprünglich bedeutet der Begriff Yoga in den Veden, den Jahrtausende alten heiligen Schriften der hinduistischen Religionen, Askese und Meditation. Erst im 11. Jahrhundert, so Singleton, entwickelten sich Hatha-Yoga, in dem man Körperstellungen,  Atem und Meditation verbindet: die asanas, die unser heutiges Bild von Yoga prägen. Das Ziel war aber auch hier: die Abkehr von der Welt.

  Unterricht in Gruppen und Teilnahme von Frauen waren im traditionellen Yoga undenkbar. Yoga wurde nur im persönlichen Kontakt vom Guru zum Sannyasin, den mönchisch lebenden „Entsagenden“,  weitergegeben. Der indische Gelehrte Patanjali, der vor ungefähr 800 Jahren Yoga-Sutras in Sanskrit schrieb, wird oft als philosophische Quelle des Yoga erwähnt. Aber über Patanjali  ist nichts bekannt, es könnten sich auch mehrere Autoren hinter diesem Namen verbergen. Der berühmte  Achtgliedrige Pfad beschreibt nur eine einzige asana: Den Lotus-Sitz. Er wird zur Meditation empfohlen. Vermutlich waren oft Sadhus, Männer die in extremer Askese lebten, damals Anhänger des Yoga. Sadhus jedoch hatten in Indien einen schlechten Ruf, sie galten als unzivilisiert und wurden verdächtigt, nach magischen Kräften zu streben.

  Wie konnte eine so fremdartige Angelegenheit so populär werden? Indem man Yoga gründlich veränderte und es ganz neu ins Spiel brachte. Männer aus der kleinen gebildeten indischen Mittelschicht kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kontakt mit Menschen aus den USA und Europa, die an Gymnastik, Leibesertüchtigung und Lebensreform interessiert waren. Im Jahr 1917 eröffnete Shri Yogendra in Mumbai ein erstes Institut für Hatha-Yoga, reiste nach den USA und lehrte auch dort, bevor er wieder nach Indien zurückkehrte. Er stelle Yoga in einen völlig neuen Zusammenhang: asanas wurden zu Übungen, die den Körper gesund und stark machten. Damit traf er den Nerv der Zeit und auf Interesses im Westen. Yogendra brach auch das Gebot der Askese, heiratete und hatte Kinder.

  Die Entwicklung der Fotografie war ein starker Motor bei der Verbreitung des modernen Yoga. Während Beschreibungen von asanas in den alten Sanskrit-Texte kaum zugänglich und oft verwirrend waren, zeigten Fotografien plötzlich deutlich, wie man es machen sollte. Übungen wurden auch neu erfunden, zum Beispiel der bekannte Sonnengruß. Bücher auf Englisch, die in viele Sprachen übersetzt wurden und auch das Fernsehen trugen dazu bei, Yoga zu verbreiten. In den USA übten Hollywood-Stars Yoga im TV, in Deutschland brachte Kareen Zebroff Mitte der 1970er-Jahre die Yogamatte in die Wohnstuben und machte mit „Yoga für Yeden“ eine regelmäßige Sendung im ZDF.

 

 Die Chakra-Pyramide von Bad Meinberg

 Am Ende des Teutoburger Waldes, 40 Kilometer östlich von Bielefeld, liegt Europas größtes Yoga-Zentrum. Als um die Jahrtausendwende Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich verordnet wurden, gingen im beschaulichen Kurort Bad Meinberg von sechs Kurkliniken vier Häuser in die Pleite. Der Verein Yoga Vidya mit seinem Gründer Sukadev Bretz kauften drei von ihnen. Plötzlich kamen in den zuvor bedrohlich leeren Kurort wieder Gäste und mit ihnen Attraktionen und Umsatz. Ein siebenstöckiger klotziger Klinikbau aus den betonverliebten 1970-er Jahre heißt jetzt „Chakra-Pyramide“, die Straße dorthin wurde umbenannt in Yogaweg. Weitere Häuser betreibt Yoga Vidya an der Nordsee, im Westerwald und im Allgäu. Über 2300 Seminare und Workshops jährlich sind im Angebot.

   „Yoga heißt Einheit, Yoga heißt Harmonie“ betont Sukadev Bretz, der vor über 25 Jahren in Frankfurt zuerst ein kleines Yoga-Studio und später Yoga Vidya gründete. Als einer von drei Söhnen einer Unternehmerfamilie, die mit Möbeln handelte, absolvierte Volker Bretz aus familiärer Verpflichtung zunächst ein BWL-Studium. Danach widmete er sein Leben der Verbreitung von Yoga in der Tradition seiner indischen Meister Sivananda und Devananda. Menschen, die Yoga üben „fühlen sich geborgen in einem großen Ganzen“, so Bretz.

  „Namen sind viele, Eins ist Gott“ zitiert Sukadev Bretz im Gespräch die Yoga Vedanta. Nach dieser philosophisch-religiösen Richtung im Hinduismus haben Menschen verschiedene Zugänge zur göttlichen Wirklichkeit. Ob Gott als Mutter oder als Vater, ob theistisch oder transzendent – in der Tradition des Yoga Vedanta werden alle Bilder und Wege bejaht, sofern sie friedlich bleiben. „Yoga erfüllt das Bedürfnis nach Persönlichkeitsentwicklung, nach einer freien Form der Spiritualität“, sagt der 55-jährige und betont: „Es ist bei jedem individuell“.  Zu den Ritualen in den Yoga Vidya Häusern gehört täglich auch ein satsang, bei dem man zusammenkommt um gemeinsam zu meditieren, religiöse Lieder zu singen, Lesung oder Vortrag zu lauschen und Gebete zu sprechen. Ähnlichkeiten zur Liturgie eines christlichen Gottesdienstes sind unübersehbar.

  Das Streben nach Harmonie und Engagement vor Ort tragen Früchte in der konservativen, traditionell protestantischen Region Lippe, in der Bad Meinberg liegt. „Es gibt eine sehr positive Reaktion hier“, sagt Bretz mit seiner stets weichen und freundlichen Stimme. Der Bürgermeister hält Ansprachen, wenn Yoga Vidya einen seiner Kongresse eröffnet und auch der Pfarrer hat keine Scheu vor den Räumen mit hinduistischen Götterstatuen. Er hält dort Vorträge, zum Beispiel über „Christliche Vorstellungen zum Leben nach dem Tod“. „Viele finden interessant, dass der Pfarrer was ausstrahlt, was Wertvolles geben kann“, meint Sukadev Bretz und vermutet: „Danach gehen sie seit langer Zeit wieder mal in die Kirche.“ Auch für ihn selbst sei die Begegnung mit moderner christlicher Theologie wertvoll. „Ich blicke auf meine christliche Vergangenheit und sehe jetzt das Liebevolle im Christentum, dass auch hier Mitgefühl wichtiger ist als Regeln.“ 

 

 "Yoga gilt als unverfälscht und rein"

 „Auch heute noch lebt Yoga von seiner exotischen Note. Man kann viel hineininterpretieren“ sagt Martin Radermacher. Als Religionswissenschaftler forscht er zu Sport, Fitness und Spiritualität der Gegenwart. Yoga mache Angebote im Bereich der „populären Spiritualität“, schaffe eine Verbindung zwischen dem Wunsch nach Gesundheit, Leben im Einklang mit sich selbst und dem Wunsch nach geistiger Entwicklung. Es sei dabei wichtig, sich zu berufen auf eine ungebrochene Tradition aus heiligen Schriften, den achtgliedrigen Pfad des Patanjali und verstorbene indischer Meister. „Wenn etwas als unverfälscht und  rein gilt, entwickelt es starke Bindungskräfte“, so der Professor von der Universität Bochum. Auch Kulturwissenschaftler Mark Singleton – der selbst Yoga übt – meint, dass Menschen in den modernen Großstädten danach suchten, sich mit etwas Wahrem, Tiefem und Reinem zu verbinden. Außerdem bräuchten sie schlicht ein Mittel gegen Stress. 

  Man kann Yoga heute mit einem riesigen Haus mit vielen, sehr unterschiedlichen Räumen vergleichen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, welchen dieser Räume man betreten möchte  -  und welche man besser meidet. Die Pastorin reagiert erstaunt, als sie hört, dass Yoga erst im 20. Jahrhundert entstanden sei. Aber sie ist verankert in ihrer christlichen Tradition und Yoga war für sie nie Religionsersatz. „Ich brauche die wöchentliche Stunde, um mich immer wieder mit meinem Atem zu verbinden. Das ist wunderbar.“ Der Friseurin, die nach der Arbeit zu ihrer Yoga-Gruppe geht, ist der historische Hintergrund schnuppe. Für sie ist wichtig, dass sie sich beim Yoga in einem kleinen Kreis von Frauen bewegen kann, ohne beurteilt zu werden. „Hauptsache, ich komme abends vom Sofa runter und auf die Yogamatte “ sagt sie und lacht. Der Student reagiert zunächst etwas enttäuscht, als er erfährt, dass Yoga sich erst im Westen zu der Form entwickelt hat, die er heute praktiziert. Er legt seine Stirn kurz in steile Falten, meint dann „Ein typischer Fall von Produktaufwertung“. Und freut sich über seine treffende Betrachtung.

 

Publik Forum Nr. 10       24. Mai 2019