Unter einem großen geistlichen Dach

Kloster auf evangelisch: In Wienhausen verbinden lebenserfahrene Frauen Wohnen, Beten und kulturelles Engagement.

 

Die Äbtissin ist eine Überraschung. Wer bei der Vorsteherin des Klosters Wienhausen ein zurückhaltendes Äußeres erwartet, liegt bei Renate von Randow falsch. Die Äbtissin des evangelischen Frauenklosters, zehn Kilometer südlich von Celle in Niedersachsen gelegen, empfängt Besucher in ihrem Büro im stilvollen knallroten Kleid, trägt üppig Schmuck an Ohren, Armen und Händen und auch ihre Lippen sind rot geschminkt. Mit wachen Augen hinter der modernen Brille, klarer Stimme und Rede ist sie selbstbewusst. Kein Zweifel: Hier tritt die Managerin eines modernen Unternehmens auf. Die tatkräftige 69-Jährige vertritt das Kloster nach außen, verantwortet seinen Wirtschaftsbetrieb aus Forsten, Grundstücken und Kultur-Tourismus. »Meine Führungsaufgabe nach innen ist die Wichtigste« sagt sie jedoch mit Nachdruck. »Ich habe ein Auge auf jede der Frauen.«

 

Die Frauen sind zwischen 68 und 86 Jahre alt, werden Konventualinnen genannt, und waren vor ihrem Eintritt ins Kloster Buchhändlerin, Lehrerin oder auch Technische Assistentin. Sie sind ledig, verwitwet oder geschieden und ihre Kinder sind längst erwachsen. Jetzt stemmen sie eine gemeinsame Aufgabe: Eine 800 Jahre alte Tradition klösterlichen Frauenlebens auf zeitgemäße Weise lebendig zu halten und in täglichen Führungen die Schätze des Klosters allen zugänglich zu machen. Mit dem Eintritt ins Kloster Wienhausen entscheiden sie sich für einen geistlichen und kulturellen Schwerpunkt in ihrem Leben. Für soziales Engagement, zum Beispiel in der örtlichen Kirchengemeinde, ist im Alltag einer Konventualin jedoch keine Zeit mehr. Jede erarbeitet sich ihre Führung durchs Kloster selbst und setzt persönliche Akzente. »Wir können hier Glauben über Kunst erklären und vermitteln« sagt die sehr gepflegt gekleidete 73-jährige Helene Behrens mit sanfter Stimme und lächelt.

 

Zusätzlich warten weitere Aufgaben im Klosterbetrieb: den Organisationsplan für die Führungen austüfteln, der Küsterdienst im »Nonnenchor«, der reich bemalten Kirche der Frauen, der Klostergarten, die Herrichtung der Gästewohnungen und die Materialbestückung des Klosterladens. Es gibt viel zu tun. Bisweilen zu viel.

 

"Es rappelt schon mal"

»Es rappelt schon mal« sagen die Frauen, wenn man sie nach Konflikten untereinander fragt. Wie kommt es zum Unfrieden an einem Ort, der wirkt, als sei er der Zeit und aller Unruhe entrückt? Spannungen entzünden sich zum Beispiel an der Frage, ob eine Aufgabe im Sinne der Gemeinschaft korrekt gemacht wird. Als Vera Rathsfeld, erst seit kurzem Konventsmitglied, den Altardienst im Nonnenchor übernimmt, tappt sie prompt in diese Falle. Sie betritt die Kirche und zündet kurz vor dem Singen der abendlichen Komplet die großen weißen Kerzen an. Das gibt zuerst ärgerliche Blicke und anschließend harsche Kritik. Denn die Uhren ticken anders im Kloster Wienhausen: Pünktlich sein – das heißt für ihre Schwestern, zehn Minuten früher da zu sein als verabredet. Warum das so ist? Auf Nachfrage ziehen die Frauen die Schultern hoch, blicken sich an, sind ein wenig verlegen. Auf Außenstehende wirkt diese Gewohnheit wie eine Art Regel, an der man prüft, ob eine bereit ist, sich einzufügen in die Ordnung der Gruppe. »Hier wird viel Disziplin verlangt« meint die von den Vorwürfen sichtlich verunsicherte Konventualin Rathsfeld. »Man könnte auch mehr loslassen« meint sie, bekommt dafür aber keine positive Resonanz.

 

Im Kloster Wienhausen steht man in der Tradition des »ora et labora« – bete und arbeite – der Benediktiner. In einem Alter, in dem das Bedürfnis nach Ruhe allgemein zunimmt, ist die Arbeitsbelastung jeder Frau hier recht hoch. Jede will es gut, manche vielleicht auch zu gut machen. Das Kloster soll nach außen und innen strahlen. Da stören Missverständnisse und Unregelmäßigkeiten, die jeder Arbeitsalltag unvermeidlich bringt, besonders stark. Ein unerfreulicher Perfektionismus, der auf die Stimmung drückt, kann die Folge sein.

 

Freilich: Nachdem sie offen über ihre Konflikte gesprochen haben, sagen die Frauen unisono »Das Klosterdach ist ein großes Dach!« Ein kleiner Satz, um eine große Qualität ihres Miteinanders zu beschreiben. Wer aufgenommen ist in den Konvent, gehört dazu. Das steht fest. Mit allen Ecken und Kanten, die jede im Laufe ihres Lebens bekommen hat. Sie wissen: wir arbeiten und beten hier zusammen, auch wenn die Unterschiede manchmal groß erscheinen. Dabei hilft ihnen, sich in ihre Geschichte zu stellen: In Wienhausen leben Frauen seit 800 Jahren in Folge als Konvent zusammen. Sicherlich gab es früher auch schon Schwierigkeiten und sie wurden gemeistert. Vielleicht reiben sich die Konventualinnen von heute auch deshalb an eigentlich kleinen Dingen, weil sie existenzielle Konflikte nicht belasten.

 

"Man ist hier privilegiert"

»Man ist hier privilegiert«, Äbtissin Renate von Randow ist gerne eindeutig. Jede Konventualin wohnt mietfrei in einer modernen Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad in besonders ruhiger und grüner Lage innerhalb der großen Klostergebäude. Ihren sonstigen Lebensunterhalt für Nahrung, Kleidung und Versicherungen bestreitet jede Konventualin selbst aus ihrer Rente oder Pension. Nur die Äbtissin geht innerhalb des Konvents einem bezahlten Beruf nach, Frauen im mittleren Alter werden dafür ausgesucht und gewählt. Nach diesem oder vergleichbaren Modellen funktionieren die 15 Klöster und Stifte für Frauen in Niedersachsen, die die Klosterkammer, eine Landesbehörde, die ehemals kirchliches und klösterliches Vermögen verwaltet, wirtschaftlich verantwortet oder unterstützt. Anziehend an diesem Modell sind auch die Fürsorge und Sicherheit, die jede Konventualin mit Blick auf das spätere hohe Alter bekommt. Sie kann »Konventualin im Ruhestand« werden und wechseln ins Kloster Marienwerder in Hannover. Dort bekommt sie eine barrierefreie Wohnung und wird bei Bedarf auch gepflegt. Dabei bleibt sie Mitglied ihres heimatlichen Konvents.

 

Der gemeinsame geistliche Weg lässt jeder Frau noch genügend Spielraum für Eigenes. Dreimal wöchentlich treffen sie sich zur Andacht in der Hauskapelle. Immer freitags singen sie die Vesper im Nonnenchor, auch Besucher sind dann eingeladen. Sonntags feiern sie Gottesdienst mit der Kirchengemeinde Wienhausen und zweimal jährlich schließen sie für drei Tage die Klosterpforte und ziehen sich zurück zu gemeinsamen Einkehrtagen. Mindestens einer dieser Tage wird von einer Konventualin zu einem selbst gewählten Thema vorbereitet und gestaltet. Mit Liedern, Texten und Gesprächen reflektieren sie dann gemeinsam geistliche Themen und bilden sich theologisch weiter. »Gemeinsam ist uns das Wort. Stille sucht jede für sich selbst« sagt Äbtissin von Randow über die geistliche Tradition des Hauses, die bis heute gilt.

 

Klöster sind beliebt heutzutage – für Touristen und Seminargäste, die nur für kurze Zeit dort verweilen. Die großen christlichen Orden plagen schwere Nachwuchsprobleme, Klöster müssen deshalb für immer schließen. Denn wer ist heute noch bereit, eine lebenslange Verpflichtung zu Gehorsam, selbstlosem Dienst und Enthaltsamkeit einzugehen? Sind da die Klöster und Stifte in Niedersachsen, in denen insgesamt über hundert Frauen leben, Modelle für zeitgemäße Formen geistlichen Lebens? Einfach kopieren lassen sie sich nicht. Schon deshalb nicht, weil die Klosterkammer Hannover mit ihrem reichen Stiftungsbesitz diese Klöster auf eine Weise unterstützt, von denen andere Klöster nur träumen. Trotzdem lohnt es sich, genau hinzuschauen. Denn es gibt Elemente, die übertragbar wären: Eine Verpflichtung, die für einen Lebensabschnitt eingegangen wird statt für ein ganzes Leben. Ein Eintritt in die Gemeinschaft im mittleren oder höheren Alter, wenn die Persönlichkeit bereits gefestigter ist. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Kloster bleibt begrenzt, weil man in einem weltlichen Beruf gearbeitet und Ansprüche erworben hat. Ein hohes Maß an Verbindlichkeit beim Eintritt in die geistliche Gemeinschaft, aber wenn das Leben anders spielen sollte als erwartet, dann kann man auch wieder gehen – ohne Groll.

 

Eines Samstagsabends klingelt es noch spät bei der Äbtissin von Wienhausen. Eigentlich will Renate von Randow endlich Feierabend haben, öffnet aber trotzdem ihre Wohnungstür. Vor ihr steht eine der Klosterfrauen. »Muss das unbedingt jetzt noch sein? Was ist denn so dringend – wollen Sie etwa heiraten?«, fragt die Äbtissin im Scherz. »Woher wissen Sie das denn?«, entfährt es der Konventualin. Tatsächlich: Auf einer Südamerika-Reise hat die 70-Jährige den Mann ihres Lebens kennengelernt, will ihn heiraten und dort mit ihm leben. Das Erstaunen ist groß – und man lässt sie ziehen, mit einem Lachen und vielen guten Wünschen. Der Kontakt und die freundschaftliche Verbindung zwischen dem Konvent des Klosters Wienhausen und seiner Schwester, die es so weit hinauszog, bestehen noch heute.

 

Publik Forum Nr. 21                                        4. November 2016