"Alles ist Übergang"

Der Białowieża-Urwald ist von verletzlicher Schönheit. Es fühlt sich an, als ob sich dort eine Tür zu einem anderen Raum öffnet.

Im Wald atme ich auf. Der Himmel spannt sich hoch über den Wipfeln, und die Welt wird weit. Nase und Mund öffnen sich für die feuchte, würzig duftende Luft. Am Boden unterm Laub knacken Äste, wenn ich darübergehe. Grüne Blätter rascheln zart, manche lösen sich, drehen in der Luft noch kleine Kapriolen und schweben zur Erde. Vor Blicken geschützt, singen und pfeifen, gurren und klopfen Vögel in den Baumkronen.

 

Uralte Bäume stehen tief verwurzelt in der Erde, wuchtig und grau, wie auf faltigen Elefantenfüßen. Ich bin auf Reisen im Białowieża-Nationalpark, dem letzten Flachland-Urwald Europas, weit im Osten grenzübergreifend in Polen und Weißrussland gelegen. Seit Menschengedenken wächst hier natürlicher Mischwald. Bewahrt wurde dieser Wald, weil er bevorzugtes Jagdgebiet der jeweils herrschenden Könige, Zaren oder Parteifunktionäre war. Holz zu schlagen war deshalb streng verboten. Heute ist dieser Wald auf über 1400 Quadratkilometern Lebensraum für anderswo längst ausgerottete Tiere und ausgestorbene Pflanzen. Wer vor Sonnenaufgang aufsteht und mit einem kundigen Führer loszieht, kann mit etwas Glück wild lebende Wisente beim Grasen beobachten.

 

Seit den 1990er-Jahren kämpften Naturschützer für den Wald, der zum Unesco-Weltnaturerbe gehört. Schließlich entschied der Europäische Gerichtshof im vergangenen Mai: Die Fällungen im Wald von Białowieża müssen sofort aufhören, denn sie widersprechen den Naturschutzrichtlinien der EU. Mein Mann und ich freuten uns sehr über dieses Urteil. Und entschieden: Da fahren wir hin!

 

Wenn ich in diesen Wald komme, betrete ich eine von Licht durchflutete Kathedrale. Im Białowieża-Wald stehen Bäume, die über 500 Jahre alt sind. Die mächtigen Stämme der über vierzig Meter hohen Eichen und fast ebenso hohen Eschen wirken wie Säulen und ziehen meinen Blick himmelwärts. Ihre Baumkronen bilden eine in allen Schattierungen von Grün leuchtende ausgedehnte Kuppel. Mild gedämpftes Licht fällt durch sie auf Gräser und Blüten, auf Sträucher und kleine Bäume, auf Sumpflandschaften, Wasserrinnsale und alles, was darin springt und läuft, kriecht und fliegt. Als Mensch geboren zu sein, als Mensch über unsere Erde zu gehen – das nehme ich hier besonders wahr. Inmitten der uralten, stoisch wirkenden Baumriesen bin ich ein kleines und bewegliches Geschöpf, pulsierend und warm, mit nur kurzer Lebensspanne. Das fühlt sich stimmig an in diesem großen, stillen Wald.

 

Gerne schaue ich hier zu Boden. Da liegen Baumstämme und Baumreste, sie verrotten langsam über Jahrzehnte, bei hartem Eichenholz sogar über Jahrhunderte, irgendwann sind sie feiner, humoser Waldboden. Sie wirken wie friedlich schlafende Riesen, sanft gehüllt in ein weiches Kleid aus hell- und dunkelgrünen Moosen, grauen und weißlichen Flechten und braunen, orangen und gelben Baumpilzen. In dem Totholz leben Insekten und Käfer, auch kleine Reptilien wie Nattern, Mäuse und andere Nager. Wenn ich mich niederlasse und in die verfallenden hohlen Stämme schaue, entdecke ich Ameisen, Asseln und Waldkäfer, die ich noch nie gesehen habe.

 

Was ist Alter, was Tod und was Leben? In diesem Wald verschwimmen die Grenzen, die wir mit diesen Begriffen ziehen. Die Formen des Lebens verwandeln sich fließend in geheimnisvoller Ordnung. Hier kann ich es beobachten. Auf der uralten Stieleiche, die hohl und morsch am Boden liegt, haben längst schon Sämlinge von Buchen, Fichten oder Erlen ihre Wurzeln geschlagen, ziehen Nährstoffe aus ihrem sterbenden Holz, wachsen und streben dem Licht entgegen. Dazwischen Spinnennetze, in denen sich Sonnenstrahlen und zappelnde Mücken verfangen. Auf dem dunklen, weichen Boden im Białowieża-Wald ahne ich etwas von der ungeheuren Kraft der Schöpfung. Wenn ich lausche und schaue, ist es, als öffne sich einen Spaltbreit die Tür zu einem tiefen Raum. Leben, Sterben, Tod – alles ist Übergang, stetige Wandlung, wie in Ewigkeit.

 

In den Wäldern zu Hause gibt es kaum Totholz und wirklich alte Bäume. Buchen, Eichen und Fichten sind in der Forstwirtschaft vor allem Nutzpflanzen. Mit hundert Jahren werden sie gefällt, weil sie sonst anderen Bäumen das Licht wegnehmen, sagt man. Aber Bäume sind mit hunder Jahren erst Teenager. Man verwertet ihr junges frisches Holz für Balken, Möbel und Papier. Seit ich im Białowieża-Nationalpark war, kann ich die Augen nicht mehr davor verschließen. Der Wohlgeruch des Waldes, seine Ruhe und verletzliche Schönheit sind Balsam für die Seele. Für die, die sie sehen. Für die, die sie schätzen und, wenn notwendig, auch schützen.

 

Publik Forum Nr. 11            7. Juni 2019