Die Schönheit schauen

Pilgern auf buddhistisch. Das heißt zehn Tage zu wandern, zu schweigen - und nicht zu jammern.

Ein Selbstversuch.

 

Ich will gehen, einfach nur gehen. Meinen ständigen Sitzplatz im Büro verlassen und endlich draußen sein. Unter freiem Himmel schlafen und mich in der Natur bewegen. Mir selbst dabei nahe kommen und vielleicht auch dem Geheimnis Gottes – in der Schönheit seiner Werke, in der Begegnung mit anderen Menschen, im Blick auf leuchtende Sterne in der Nacht.

 

Zusammen mit meinem Mann melde ich mich übers Internet für den Dharma yatra an. "Yatra" ist ein Wort in Pali, die Sprache der alten buddhistischen Texte, und bedeutet: der Weg. "Dharma" kann man mit "die Lehren Buddhas umschreiben. Jeden Sommer treffen sich in Südfrankreich mehr als hundert Leute aus mehreren Ländern, um zehn Tage lang buddhistisch inspiriert  unterwegs zu sein. Sie wollen schweigend pilgern und meditieren, sehr einfach leben und im mitgebrachten Zelt schlafen. Sich als "Sangha", als Gemeinde, zusammenfinden, achtsam miteinander und mit der Natur umgehen.

 

Mit der Bahn fahren wir eine Nacht und einen Tag lang zu einem Dorf 150 Kilometer südlich von Grenoble. Der Dharma Yatra beginnt in den Rhone-Alpen. Wir haben so etwas noch nie gemacht und sind ein bisschen aufgeregt. In einer langen Linie, zusammen mit Alten, Jungen und sogar kleinen Kindern, ziehe ich Schritt für Schritt langsam bergauf. Es ist heiß, der Weg steinig und ein böiger Wind bläst unfreundlich ins Gesicht.

 Sonst  lebe ich in Norddeutschland auf 50 Meter über Normalnull, hier sind es plötzlich 1.800 Meter. Die Luft wird dünn, ich komme ins Keuchen, laut pocht mein Herz in der Brust. "Nehme deinen Atem wahr, spüre dein Herz, öffne dich." Ja, zuvor hatte ich kluge Anweisungen zu Achtsamkeit und Meditation gelesen. Aber ich gebe zu: so intensiv körperlich hatte ich es mir nicht vorgestellt.

 

Wunschbilder tauchen in mir auf, während es schwitzend bergauf geht: von einem Berggasthof, der uns erwartet mit schattigen Plätzen und kühlen Getränken...  Aber da ist kein Gasthof, wir gehen so abgelegene Pfade, da wird auch keiner kommen. Das Kopfkino wiederholt sich. Endlich kann ich es stoppen und langsam, Schritt für Schritt, begreife ich: Es ist wie es ist. Ich schaue mich um, lasse meinen Blick schweifen: Was ist hier, was ist jetzt, was ist schön?

 Da sind Schmetterlinge – zarte Zitronenfalter, leuchtend orange Kaisermantel und sogar der großen Apollofalter, der in Deutschland seit Jahrzehnten ausgestorben ist. Das Herz hüpft vor Freude. Die Schmetterlinge flattern durch die Lüfte, lassen sich nieder auf zarten Blumen, fliegen mit Leichtigkeit zur nächsten Blüte und bringen die Bergwiesen zum Tanzen. Es geht gar nicht anders, ein Lächeln kommt und bleibt, wenn ich das schaue. Ich bleibe stehen, bekomme wieder Luft und die Hitze und das lauwarme Wasser aus der Trinkflasche sind mir egal.

 

Den Yatra gehe ich für mich, aber nicht allein.Ich bin unterwegs mit der Sangha, in einer freundlichen und vielfältigen Gemeinschaft. Wir brauchen einander. Der eine hat die Pilgerroute ausfindig gemacht, der andere die Quelle, aus der wir Wasser bekommen. Einige schmieren kistenweise leckere Sandwiches für unterwegs, andere bleiben im Camp und bereiten in der improvisierten Küche für den Abend eine leckere Mahlzeit für 150 Leute vor.

 Die eine leitet eine geführte Meditation auf Englisch, der andere auf Französisch und jeden Abend hören wir im großen Zelt den "Dharma-Talk", einen Vortrag zu persönlichen, buddhistischen und politisch-philosophischen Fragen. Das kleine wundersames Netzwerkhält mit Achtsamkeit, Geduld und einer guten Portion Humor. Denn das einfache Leben auf Stoppeläckern in umwerfend schöner Bergwelt ist nicht immer leicht.

 Da hilft eine Vereinbarung, an die sich alle halten: Wir jammern nicht. Befindlichkeiten sind unvermeidlich, aber nicht der Nabel der Welt. An einem Regentag bekommen die anderen genauso nasse, kalte Klamotten und Füße wie ich. Bei wem also sollte ich mich beschweren? Wenn alle gelassen bleiben kann ich mich dem anschließen. Leben – das ist auch eine Frage der Haltung.

 

Geduld mit mir und anderen: Seit ich auf dem Yatra war, fällt sie mir leichter. Auch zu Hause schaue ich meine Emotionen und Befindlichkeiten genauer an, bevor ich mit ihnen reagiere. Und abends, nach einem Tag mit viel Sitzen im Büro, gehe ich jetzt öfter nach draußen: Nach den Sternen schauen, Schönheit sehen. Gerne auch mit vier Augen, zusammen mit meinem Mann.

 

Publik Forum Nr. 19     19. Oktober 2015