Vor der Tür des Herzens

Wie soll ich Dich empfangen? Und wie begegne ich Dir? Das Getriebe, in dem ich alltäglich laufe, lässt mir kaum Zeit und Raum, mich zu besinnen. Auch dann, wenn Besinnung verordnet wird, an Fest- und Feiertagen, ist es oft dröhnend laut in mir. Die Erwartungen und Ansprüchen, Rollen und Pflichten, mit denen wir uns selbst und andere traktieren, machen oft müde, manchmal auch einsam. Da sind Bilder und Vorstellungen: Gott ist mit mir, Gott ist um mich. Aber wie kann ich das wieder spüren? Wie kann ich in Berührung kommen mit Ihm, der mir das Leben geschenkt hat? Mit Ihr, der Quelle allen Lebens?

 

Ich möchte mir Zeit nehmen und versuchen, einfach zu werden und bereit. Sitzen und atmen und den Atem geschehen zu lassen – sonst nichts. Im Alltag wünschen wir uns oft mehr Ruhe und Gelassenheit. Ich möchte mich dafür öffnen. Ja, jetzt.

 

Sitzen und schweigen und achtsam wahrnehmen, was jetzt ist und wie ich selbst bin. Die vielen, sonst nicht wahrgenommenen oder überhörten Dinge melden sich zu Wort. Satzfetzen klingen noch nach in meinen Ohren von vergangenen Gespräche und Diskussionen. Szenen und Bilder schwirren mir durch den Kopf von dem, was war an diesem Tag. Manchmal steigen Befürchtungen und Ängste hoch. Von der Straße höre ich Verkehrslärm. Wie kann man da still werden – nicht nur äußerlich, sondern inwendig?

 

Nicht müde werden. Die Hände halte ich offen und versuche, gegenwärtig zu sein im Augenblick. Da melden sich meine Schmerzen, die ich im Alltag meistens verdränge. Ich bleibe sitzen. Das ist nicht immer leicht. Aber ich weiß: Du bist nicht fern. Du bist immer schon da. Es genügt, die vielen wirren Stimmen zum Schweigen zu bringen und in der Stille mein Herz zu öffnen. Ich atme ein und richte mich auf. Das Leben in seiner Fülle nehmen wir auf mit dem Atem. Ich lasse es zu. Ausatmend entspanne ich mich. Alles loslassen. In der Atempause kurz vor dem nächsten Einatem ist – scheinbar nichts. Da ist Stille. Im Atemfluss ist Kraft und Gelassenheit und Stille. Wir leben im Rhythmus des Atems. Gott ist mit mir und in mir in jedem Atemzug. Du, Atem in allem Atem.

 

„In der Stille und in der Ruhe … spricht Gott in die Seele  und spricht sich ganz in die Seele. Dort gebiert der Vater seinen Sohn ...“ So predigte der Dominikanermönch Meister Eckhart im Hochmittelalter zu den Nonnen seines Ordens. Die klugen Frauen schrieben seine Predigten auf und überlieferten sie so der Nachwelt. Eckhart sprach klar, bildhaft und schön. Seine Einsichten und Ansichten provozierten schon damals, sie tun es heute noch. „Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist.“

 

In der Stille öffnen sich Türen zu Räumen, die sonst verschlossen sind. In diesem Raum können wir wahrnehmen und spüren: So und nicht anders. So bin ich und so bin ich vollkommen angenommen.  Für einige Augenblicke sind alle Bilder und Vorstellungen verschwunden. Ich kann verzichten auf meine Zu- und Abneigungen, auf meine Enttäuschungen und meine Erfolge. Ich lasse auch meine Fehler und das Versagen anderer an mir. Im Raum, den Stille macht, ist Begegnung. Mit Ihm, der gewartet hat vor der Tür meines Herzens. Im Schutzraum, den Stille macht, lasse ich mich zart berühren. Lasse mich lieben. Nur einen Augenblick, ohne Zögern und ohne Bedingungen. Lasse mich lieben, so wie ich bin: nackt und klein und verletzlich.

 

„Die Seele ist eine innere Welt, mit so vielen und so feinen Dingen, großen Geheimnissen, vielen Wohnungen. Es gibt in ihr einen Wohnort für Gott. Der Mensch ist ein Lebensbaum, der an den lebendigen Wassern des Lebens – das ist Gott selbst – gepflanzt ist. In der innersten Mitte gehen die höchst  geheimnisvollen Dinge zwischen Gott  und der Seele vor sich. Dort wo sich nur er und die Seele in tiefstem Schweigen aneinander erfreuen.“ So schrieb Teresa von Avila, mutige und beherzte Gründerin eines Reformordens und vieler Klöster in Spanien. Ihre schweren Krankheiten und Glaubenskrisen hielten sich nicht davon ab, Freundschaft mit Gott zu suchen und zu leben.

 

Gepflanzt an den Wassern des Lebens – da wachsen Bäume in die Tiefen der Erde und in die Höhen des Himmels. Auch mein Baum. Und Deiner. Unsere Bäume. Da spielen auch Kinder – kleine und große. In Deiner Gnade leben wir – ob wir sitzen oder liegen, stehen oder gehen. Auf allen unseren Wegen. Immer. Auch dann, wenn ich wieder ins Getriebe gerate. Falls meine Seele es vergisst: Im Schweigen öffne ich mich wieder dafür. Im Raum, den Stille macht, berühre ich Dich. Und Du berührst mich. Ganz. Gewiss.

 

Aus: stille macht                  

Weihnachtsgabe der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD)

Dezember 2014