Die Arme der 79-Jährigen werden immer schwächer, bis sie schlaff und und gelähmt von den Schultern herabhängen. Als sie auch ihre Hände kaum mehr bewegen kann, erhält Gisela Kujawa die Diagnose ALS. Eigentlich lebt sie gerne. Aber sie ist an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt, einer unheilbaren Krankheit, bei der die Verbindung des Nervensystems zu den Muskeln allmählich zerstört wird. Lähmungen am ganzen Körper, auch der Atemmuskulatur, sind die Folge. Gisela Kujawa möchte in den letzten Monaten ihres Lebens nicht als schwerer Pflegefall einem sie ängstigenden Leiden ausgeliefert sein. In dieser Situation fragt sie ihre Tochter Maren, ob es einen Weg gebe, wie sie bald sterben könne. Im Gespräch mit der vertrauten Tochter hört sie vom Sterbefasten.
Beim Sterbefasten hört man aus eigenem freiem Entschluss auf, Nahrung zu sich zu nehmen und trinkt auch nichts mehr. Angesichts einer oder mehrerer unheilbarer Krankheiten nimmt man so Einfluss auf den Zeitpunkt des Todes. Man hofft, so sein körperliches und seelisches Leiden zu vermindern und leitet auf eigenen Entschluss den Sterbeprozess ein. Weil das Wort »fasten« in gesundheitlichen und religiösen Zusammenhängen üblich ist, wird auch die neutral klingende Abkürzung FVNF – Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit verwendet. Dieser Verzicht fällt in dieser letzten Lebensphase im Allgemeinen nicht schwer, weil alte kranke Menschen oft keinen Appetit und keinen Durst mehr haben. Wer sich auf den Weg des Sterbefastens begibt, stirbt innerhalb einer oder mehrerer Wochen, je nach Art der Erkrankungen, der körperlicher Verfassung und der Einschränkungen bei der Flüssigkeitszufuhr.
»Unsere Mutter lebte immer selbstständig, sie wollte nicht ins Heim und sie sagte immer, sie wolle uns nicht belasten«, berichtet Tochter Maren ein Jahr nachdem sie ihre Mutter beim Sterbefasten begleitet hatte. Sie ist Pastorin und arbeitet als Seelsorgerin im Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz in Syke, 25 Kilometer südlich von Bremen. »Du gehörst zu uns, auch wenn es dir schlecht geht« sagt Maren Kujawa mehrfach zu ihrer Mutter. und dass sie und ihre Familie bereitt seien, ihr alle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie angesichts von Alter und Krankheit brauche. Aber Ende Juni des vergangenen Jahres sagt Gisela Kujawa im Beisein von Ärztin und Tochter, dass sie erwäge, Sterbefasten zu machen.
"Seid Ihr bereit, diesen Weg mitzugehen" fragt sie ihre Töchter
Zuvor hatte sie das Buch »Umgang mit Sterbefasten«, veröffentlicht von der Trauer- und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden und deren Mann Hans-Christoph zur Nieden, Arzt für Allgemein- und Palliativmedizin im Ruhestand gelesen. Nur eine Woche später steht ihr Entschluss dazu fest. »Seid Ihr bereit, diesen Weg mitzugehen?« fragt sie ihre Töchter Maren und Gaby.
Das überraschend liberale Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe im Februar dieses Jahres belebt die ethischen Debatten um ein menschenwürdiges Sterben in unserer Gesellschaft. Der Raum für unterschiedliche Gedanken und Gefühle, Haltungen und Handlungen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod ist geöffnet. Es gebe ein »Recht auf selbstbestimmtes Sterben«, das sich aus der Menschenwürde und dem Persönlichkeitsrecht ableite, entschieden die Verfassungsrichter. Jeder könne »entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit« entscheiden, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dies schließe auch das Recht mit ein, sich dabei von anderen helfen zu lassen. Die aktive Sterbehilfe, bei der ein Arzt einen Kranken auf dessen eigenen Wunsch hin tötet, zum Beispiel durch eine Spritze, bleibt weiterhin verboten.
Auch der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist nicht berührt durch das Urteil des Verfassungsgerichts. Sterbefasten bedeutet, die medizinischen Therapien abzubrechen und Essen und Trinken einzustellen, bei gleichzeitiger Weigerung sich über Magensonde und Venentropf versorgen zu lassen. Grundsätzlich darf ein Arzt einen Patienten nur mit dessen Zustimmung behandeln. Ein Behandlungsabbruch war deshalb schon immer möglich – und für den Arzt straffrei. Dennoch kann sich durch das Karlsruher Urteil auch beim Sterbefasten etwas ändern: Bislang war der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit für alte kranke Menschen die einzige legale Möglichkeit ihren Tod selbst herbeizuführen. In Zukunft könnte es im Rahmen eines neuen Gesetzes – voraussichtlich nach Beratung, Indikation und Wartezeit – auch medikamentöse Hilfen zum Sterben geben. Dann wird sich zeigen, wer wirklich den langsameren Weg des Sterbefasten gehen möchte und wer nicht.
»Ich bin erleichtert und entlastet. Es gibt eine Lösung. Das Schwere dieses Weges ist viel weniger schwer als das, was mich sonst zu erwarten hätte« sagt Gisela Kujawa nach ihrem Entschluss für das Sterbefasten. Auf Wunsch ihrer Mutter dokumentiert ihre 57-jährige Tochter Maren den Verlauf ihrer nun anbrechenden letzten Lebenswochen. Am 20. Juli 2019 schreibt sie: »Ich besuche sie in Hannover. Wir bereiten die Liste für die Trauerfeier vor. Wir reden über die Begleitung während des Fastens. Wir reden darüber, was noch organisiert werden muss. (…) Wir freuen uns miteinander, genießen das Reden und Sein. Mutti sagt, dass es ihr gut geht und sie sich, obwohl es absurd klingt, darauf freut, dass es nun bald beginnt.« Ende des Monats fährt Maren Kujawa mit gepacktem Koffer nach Hannover in die Wohnung ihrer Mutter. Von ihrer Arbeitsstelle hat sie sich beurlauben lassen. Als sie ankommt, hat ihre Mutter ihre letzte Mahlzeit bereits zu sich genommen. Maren Kujawa notiert: »Sie ist gut gelaunt, es ist nett, wir reden, erzählen, planen, lachen, gehen die Pflegemittel durch.«
Gute Kommunikation ist wichtig
Mit dem Sterbefasten kann – wenn die Voraussetzungen dafür stimmen – eine intensive, oft als wertvoll erlebte Zeit für den Sterbewilligen, dessen Familie und Freunde beginnen. »Es ist eine bewusste Methode, das gefällt mir am Sterbefasten« sagt die Trauer- und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden. »Da ist Zeit, sich zu bedanken, sich zu entschuldigen, vielleicht noch ein Hühnchen zu rupfen.« Ihr erstes Buch schrieb sie vor zehn Jahren über das Sterbefasten ihrer Mutter, das zweite erschien im vergangenen Jahr und handelt von 18 Fälle von Sterbefasten, die Angehörige dokumentiert haben. Hier und in ihren Vorträgen betont die 67-jährige stets, wie zentral wichtig eine gute Kommunikation schon in der Vorbereitung des Sterbefastens ist.
Von der Hausärztin ihrer Mutter, die auch palliativmedizinisch qualifiziert ist, bekommt Maren Kujawa die notwendigen Rezepte für Schmerz- und Beruhigungsmedikamente und für Pflegemittel für Augen, Nase und Mund. Besonders eine sorgfältige Mundpflege ist wichtig. Lippen und Mundhöhle sollten stets feucht sein, damit sich keine harten Borken und schmerzhaften Risse bilden. Maren Kujawa steht in engem Kontakt mit Ärzten, Krankenschwestern und einem Apotheker, wie dies in jeder häuslichen Sterbebegleitung angeraten ist. Auch in der Nacht braucht der Mensch, der sich auf dem Sterbeweg befindet, immer wieder Unterstützung und Hilfe.
Eine Nachbarin, die Gisela Kujawa eine Woche vor ihrem Tod ein letztes Mal besucht, bringt es auf den Punkt: »So ist sie, Ihre Mutter. Was sie will, zieht sie durch.« Sterbefasten, so erkannte sie, ist nur für Menschen geeignet, die gewohnt sind, selbst Entscheidungen treffen und diese auch durchzuhalten. Auch die körperliche Verfassung muss passen: Nur wer alt – 75 Jahre und älter – und ernsthaft erkrankt ist, hat bereits einen so weitgehend geschwächten Körper, dass der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zum baldigen Tod führt. Man müsse das Gefühl haben, sein Leben gelebt zu haben, »lebenssatt und leidenssatt« sein, sagt Christiane zur Nieden.
Sterbefasten ist einem natürlichen Sterben sehr ähnlich. Mit dem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit trocknet der Körper langsam aus. Der Stoffwechsel verändert sich, das Gehirn bekommt weniger Sauerstoff und bildet körpereigene Opiate, die Schmerzen lindern, beruhigen und die Stimmung aufhellen können. Mehrere Tage lang ist für den Fastenden seine Entscheidung noch umkehrbar. Wer wieder anfängt zu trinken, kann zurückkehren ins bisherige Leben. Das gilt bis zur letzten Ausscheidung von Urin. Danach sind die Nieren unheilbar geschädigt und ein weiteres Leben wäre nur mit Dialyse möglich.
In ihrem Buch widmen sich Christiane und Hans-Christoph zur Nieden auch der wichtigen Frage, für wen Sterbefasten nicht geeignet ist. Sie lehnen es für Menschen ab, die dement oder psychisch krank sind. Denn die Grundbedingung für das Sterbefasten ist die freiverantwortliche Entscheidung dafür – von Anfang bis zum Ende. Wer aber dement oder an einer Depression erkrankt ist, ist dazu nicht in der Lage. Ein weiteres Kriterium für den Ausschluss: zu jung dafür zu sein. Der Körper hat auch im mittleren Alter noch einen hohen Grundumsatz an Energie. Beim Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit tritt dann quälender Mangel auf. Auch Menschen, die keinen vertrauensvollen und unterstützenden Kontakt zu mindestens einem Angehörigen haben, sollten darauf verzichten. »Nur mit Kommunikation und Kontakt ist ein schönes Sterben möglich«, betont Sterbebegleiterin zur Nieden. Sterbefasten sei nur in Gemeinschaft gegangen ein guter Weg. Und es sei kein Suizid, auf diese Unterscheidung legt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin wert. Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit beschleunige lediglich das Sterben.
Am vierten Tag des Nahrungsverzichts hörte Gisela Kujawa auf zu trinken. Tochter Maren gab ihr mit Zitronenwasser getränkte, feuchte Waschlappen zum Nuckeln, was sie als sehr angenehm empfand. Mitten im heißen Sommer des vergangenen Jahres litt sie so kaum unter Durstgefühl. Als sie Schmerzen in den Knochen bekommt und innerlich sehr unruhig wird, erhält sie Morphium und Beruhigungsmittel. Maren Kujawa massiert regelmäßig den ganzen Körper ihrer Mutter. Jeden Abend gestaltet sie ein Ritual: Mit Tönen von Klangschalen bringt sie ihren dünnen Körper in zarte Schwingung. Sie liest Karten und Briefe von Menschen vor, die zum Abschied geschrieben hatten. Am Ende jedes Tages singen und beten Mutter und Tochter gemeinsam.
Eine neue Innigkeit ist da
»Meine Mutter war nie eine Schmusemama gewesen. Jetzt war da eine neue Innigkeit, die wir so noch nie hatten« erinnert sich Maren Kujawa. Anfangs fühlt sie sich unsicher, wie hoch sie das Beruhigungsmittel dosieren und wie sie die Spritzen setzen sollte. Nacht steht sie öfter auf, um nach ihrer Mutter zu sehen, die immer wieder von Unruhe geplagt wird, um nach ihr zu sehen. Tagsüber ist sie dann müde und erschöpft. Rückblickend sagt sie dennoch: »Die Pflege war ein Liebesdienst. Ich habe es gerne gemacht.« Unterstützung erfuhr sie während dieser Zeit von ihrer Schwester und ihrem Mann, von ihren erwachsenen Kindern, von Nichten und Neffen.
Auch in Pflegeheimen gibt es Sterbefasten. Allerdings vermeidet man dort diesen Begriff und spricht von »Freiwilligem Verzicht auf Essen und Trinken«. Die alten Menschen treffen möglicherweise nur zum Teil eine bewusste Entscheidung dafür. Aber sie haben keinen Hunger und Durst mehr, sie pressen die Lippen aufeinander und drehen konsequent den Kopf weg. Üblicherweise folgt im Heim dann eine »ethische Fallbesprechung«, bei der sich Arzt, Heimleitung, Pflegekräfte und Angehörige beraten. Die Heime reagieren unterschiedlich. Manch eine Heimleitung hat einerseits Angst vor Beanstandungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, weiß aber auch, dass eine Ernährung gegen den Willen des Heimbewohners eine Körperverletzung und damit strafbar wäre. Wichtig ist, dass sich die Träger der Heime mit der Thematik auseinandersetzen. Der Ethikrat katholischer Träger von Pflegeeinrichtungen im Bistum Trier hat verschiedene Fallkonstellationen betrachtet und kam schon vor zwei Jahren zu dem Schluss, es sei »ungeachtet berechtigter moralischer Bedenken Pflicht der Einrichtung, den Sterbenden nicht sich selbst zu überlassen, sondern Hilfe zu leisten.«
Am 14. Tag ihres Sterbefastens neigt sich der Weg dem Ende zu. Den Tag über kommen Enkel, Schwiegersohn und beide Töchter an ihr Bett um sich einzeln von ihr zu verabschieden. Am Nachmittag feiern alle zusammen mit einer Pastorin ein Abschiedsritual. Gisela Kujawa wird gesegnet. Am frühen Abend stirbt sie. Tochter Maren Kujawa schreibt ins Tagebuch »Die Sonne kommt durch die Wolken (…) Wir halten sie an der Hand und am Kopf. Es ist wie ein friedliches Ausatmen.«
Publik Forum Nr. 18 25. September 2020