An den Schalthebeln der Zukunft

Wer Künstliche Intelligenz entwickeln kann, prägt zunehmend das tägliche Leben. Was macht das mit jungen Studierenden? Ein Besuch bei zwei Masterstudenten in Tübingen

Sprungbereit stehen sie in den Startlöchern für ihren Beruf auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Die Studenten Luis Winckelmann und Tim Weisbarth machen ihren Abschluss im Fach Maschinelles Lernen an der Universität Tübingen. Dann sind sie gesuchte, hoch qualifizierte Experten für KI. Was reizt junge Menschen, dieses schwierige, auch umstrittene Informatik-Fach zu studieren und was wollen sie mit Künstlicher Intelligenz danach in ihrem Beruf machen? Was bewegt und beunruhigt sie angesichts der Folgen dieser mächtigen Technologie?

 

„Ich bin gerade im Tunnel“ sagt Luis Winckelmann und lacht etwas aufgekratzt. In neun Tagen ist Abgabetermin für seine Masterarbeit. Seit vielen Wochen arbeitet er täglich zwölf Stunden am PC, zurzeit an sieben Tagen pro Woche. Trotzdem sitzt der 27-jährige gut gelaunt auf dem Balkon der Wohnung in der gepflegt-bürgerlichen Tübinger Südstadt, die er mit vier anderen Studierenden teilt. „Das Schöne an meinem Studium Maschinelles Lernen in Tübingen war, dass es so viele verschiedene interessante Kurse gab“, blickt Luis Winckelmann, legeres Outfit mit Dreitagebart, Jeans und bequemen Hausschuhen aus Wolle, bereits auf sein Studium zurück. „Es gab sehr viel Freiheit.“  

 

Für den Master Maschinelles Lernen, in dem man studiert, wie Künstliche Intelligenz funktioniert und wie sie gebaut wird, bewerben sich an der Universität Tübingen jedes Jahr bis zu 800 Interessierte. Aufgenommen werden nur 50, ungefähr ein Drittel davon sind Frauen. Alle müssen herausragende Kenntnisse in Mathematik, Informatik und Datenanalyse vorweisen. Danach ist weiterhin ambitioniertes Studieren angesagt, um im Fach bestehen zu können. Viel Freiheit gibt es da nur für einen Mathecrack wie Luis Winckelmann.

 

Schon im Kindergarten verblüffte er seine Familie damit, dass er alleine rechnen gelernt hatte. In der Schule war Mathematik absolutes Lieblingsfach und der PC sein Hobby. Heute wendet er sein tiefes mathematisches Verständnis für die Analyse von Daten an. Luis Winckelmann zieht das Smartphone aus seiner Hosentasche und legt es auf den Balkontisch. Auf dem Schirm erscheint das Modell eines Autos, von dessen Dach eine Wolke sich rundum strahlend ausdehnt. Lückenlos misst hier ein kleiner Sensor auf der Mitte des Autodachs alle Reflektionen der Umgebung auf sein Licht. Mit diesen Daten und ihrer Analyse soll ein autonomes Fahrzeug andere Objekte im Straßenverkehr sehr schnell und zuverlässig orten, sie erkennen und richtig einordnen können. Daran forscht Luis Winckelmann in seiner Masterarbeit.

 

Alle großen Autokonzerne lassen zum Autonomen Fahren forschen. Sollte es sich einmal durchsetzen – was geschieht dann mit den Busfahrern, Taxifahrern und Lieferanten, deren Dienste überflüssig werden? „KI wird noch präsenter werden für jedermann. Das beschäftigt mich viel“, Luis Winckelmann spricht schnell und klar. „Logischerweise werden manche Jobs auf Dauer wegfallen, andere Jobs werden durch KI leichter oder besser und es werden neue Berufe entstehen. Das ist bei solchen disruptiven Technologien immer der Fall.“ 

 

Mündige Menschen sind gefragt

Der junge KI-Forscher sieht enorme Veränderungen, vergleichbar mit der Industrialisierung, auf die Gesellschaften zukommen. „In meiner optimistischen Zukunftsvision fallen viele Jobs weg, die Menschen nur machen müssen, um zu überleben. Irgendwann bekommen wir so viel automatisiert, dass ein Grundeinkommen für jeden möglich ist und nur noch diejenigen arbeiten, die es wollen. Sechs Stunden an vier Tagen die Woche, das würde dann ausreichen.“ Luis Winckelmann lacht kurz, wie verlegen, auf. „Aber wir leben in einer kapitalistischen Welt. Da sagen die Firmen, “ ist mir doch egal, ob der Spaß hat an seinem Beruf. Wenn es günstiger ist, zu automatisieren, dann automatisiere wir den Job.“ “ Politische Entscheidungen, die die Umwälzungen durch KI abfedern, hält er für wichtig. „Falls es geschieht, dass in Zukunft viel mehr Jobs wegfallen als neue entstehen, dann muss man sich darum kümmern, wie das reguliert wird“, sagt er nüchtern-sachlich.

 

Auch Tim Weisbarth verfolgt aufmerksam, wie die neue Technologie vieles verändert. In seiner Masterarbeit beschäftigt sich der 26-jährige damit, wie KI dazu beitragen kann, Stromnetze flexibler zu machen für die regenerativen Energien. Wie können Netze so intelligent gesteuert werden, dass die Energie aus Sonne und Wind, die aus vielen verschiedenen, weit verstreuten, unterschiedlich großen Quellen stammt, trotzdem umfangreich und zuverlässig  bei den Verbrauchern ankommt? „Das macht Sinn“, erklärt Tim Weisbarth seine Entscheidung für dieses Thema.

 

Er sitzt auf einer Holzbank vor dem Tübinger Stadtmuseum, lehnt sich gegen die dicke kühle Wand des alten Fachwerkbaus und ruht sich etwas aus. Gerade hat er eine Führung durch die Ausstellung „Cyber and the City“ gegeben. Studierende seines Fachs Maschinelles Lernen und der Sozialwissenschaft Empirische Kulturwissenschaft haben sie in über einjähriger Arbeit zusammen mit Universität und Museumsleitung geschaffen. „Wir möchten Mündigkeit erzielen“, erklärt Tim Weisbarth, sportlich trainierte Figur, kurz rasierte Haare, warme Stimme, sein Engagement in der Vermittlung. Nur wer verstehe, wie Künstliche Intelligenz funktioniere, könne mitreden bei den Entscheidungen darüber in einer demokratischen Gesellschaft. 

 

Schulklassen, Kirchengemeinden und auch die Ethikkommission der FDP hat Tim Weisbarth schon durch die Ausstellung geführt. Dabei hört er viele Fragen, nimmt Interesse und Faszination, aber auch Ängste wahr. „Die Menschen nicht bereit sind für diese so schnelle Entwicklung, das macht mir Sorge“, sagt er und meint damit vor allem die neue Entwicklung von generativer Künstlicher Intelligenz. Texte, Töne, Bilder und Grafiken, Audios und Videos in beliebigen Stilarten lassen sich mit generativer KI erstellen, auch Computerprogramme schreiben und viele weitere Aufgaben erledigen, für die es bislang gut qualifizierte Fachleute braucht. Die Werke von generativer KI wirken dabei oft so kreativ und perfekt, dass sie von dem, was Menschen schaffen, nicht zu unterscheiden sind.

 

Seit ChatGPT (Chatbot Generative Pre-trained Transformer) im Frühjahr vom US-Unternehmen OpenAI veröffentlicht wurde, kann jedermann über Frage und Antwort kostenlos mit generativer KI kommunizieren „Es ist völlig beeindruckend, was dieses System kann“, sagt Tim Weisbarth. „Auch ich kann meine Hausaufgaben, die ich fürs Studium jede Woche bekomme, jetzt mit ChatGPT machen. Ich kopiere die Aufgabe da rein und schreibe: bitte löse diese Aufgaben für mich. Ich bekomme dann Lösungen, die ich abgeben kann.“

 

Freude über diese Arbeitserleichterung kommt jedoch nicht auf. „Es kann nicht sein, dass man als Mensch viele Stunden an einer Aufgabe sitzt und ChatGPT löst diese dann in ein paar Sekunden“, die Stimme von Tim Weisbarth geht hoch, Empörung schwingt mit. Diese rasant schnelle Technologie sei für Menschen kaum durchschaubar, unverständlich, man fühle sich leicht abgehängt. „Das fördert Ohnmachtsgefühle, Depressionen, Rechtsruck in der Gesellschaft. Es ist eine Machtverschiebung zugunsten der großen Tech-Konzerne.“

 

Denkt er an eine passende Arbeitsstelle, die er nach Studienabschluss suchen wird, zögert er, schaut immer wieder wie suchend nach oben. „Ich könnte bei einer großen Firma anfangen, wo viele andere Leute sind, die auch mit Künstlicher Intelligenz arbeiten um noch mehr Erfahrung zu sammeln. Später dann bei einer kleineren Firma im Umweltbereich“, überlegt er. „Zu den erneuerbaren Energien zu arbeiten kann ich mir am besten vorstellen, weil es am sinnvollsten ist.“

 

Er erwägt, später nur zu fünfzig Prozent als Ingenieur im Bereich Maschinelles Lernen zu arbeiten. „Das Mathematische ist eine komplizierte und vielfältige Herausforderung für mich“, erklärt er seine Studienwahl. Fürs Studium arbeitet Tim Weisbarth sehr konzentriert, bis zu sieben Stunden täglich an sechs Tagen der Woche. Aber er hat auch viele andere Neigungen, für die er wieder Zeit haben möchte. „Ich bin ein spiritueller und auch sehr emotionaler Mensch,“ bekennt Tim Weisbarth und lächelt verhalten. Er meditiert, seit er als 23-jähriger acht Monate lang in Taizé war und geht einmal im Jahr für zwei Wochen in die Stille.

 

An zwei Nachmittagen in der Woche jobbt er an einer Tübinger Grundschule. Mittagessen ausgeben, Hausaufgaben betreuen, Fußball spielen oder mit dem Diabolo jonglieren – all das macht Freude. „Ich mache das für Geld, aber ich gehe total auf in der Emotionalität mit den Kindern. Hier erlebe ich eine Lebendigkeit, die ich vermisse.“ Der Computer, so Tim Weisbarth, sei ja nur eine Rechenmaschine. „Die Realität wird über Messwerte dargestellt. Das ist für mich abstrakter und damit auch distanzierter.“

 

Luis Winckelmann möchte beruflich schnell loslegen, wenn er seinen Master Maschinelles Lernen in der Tasche hat. „Es gibt so viele Möglichkeiten. Ist fast schon erdrückend, diese Auswahl!“, sagt er lachend, schaut dabei vom WG-Balkon fröhlich hinaus in die Ferne. Die Autokonzerne Tesla, Daimler, BMW, VW forschen, stets in Konkurrenz zu chinesischen Herstellern, auf dem Gebiet des Autonomen Fahrens. Mit seinen herausragenden Kenntnissen in der Objekterkennung mit Hilfe Künstlicher Intelligenz hat Luis Winckelmann beruflich aber auch viele andere Möglichkeiten, zum Beispiel in der Medizinforschung. Auch im Ausland zu arbeiten, kann er sich gut vorstellen.

 

Kampfstoffe per KI?

Alle Türen für eine erfolgreiche Berufslaufbahn scheinen nun offen zu stehen. Aber da ist die Problematik des dual use, der doppelten Verwendungsmöglichkeit. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an etwas arbeite, das ich moralisch für nicht vertretbar halte“, ist für Luis Winckelmann klar. „Das Problem ist, dass es auch anders genutzt werden kann.“ Das zeigte sich sehr erschreckend in diesem Frühjahr: US-amerikanische Forschende aus der computergestützten Pharma-Forschung machten öffentlich, wie einfach es ist, mit Hilfe von KI biologische und chemische Kampfstoffe zu entwickeln. Eigentlich geht es in ihrem Arbeitsgebiet darum, Medikamente zu entwickeln. Normalerweise untersucht dabei die KI die Giftigkeit von Molekülen, um gefahrlose Wirkstoffe zu erzeugen. Für das etwas andere Experiment ließen sie die Künstliche Intelligenz umgekehrt laufen. In weniger als sechs Stunden hatte der geänderte Algorithmus rund 40.000 Molekülstrukturen gefunden, die hochgiftig wirken, darunter auch die chemische Formel von VX, einem der giftigsten chemischen Kampfstoffe

 

 „Macht mich total nachdenklich“, sagt Luis Winckelmann über den Aufruf der US- amerikanische NGO „Center of AI Safety“, den wenig später führende KI-Wissenschaftler unterzeichneten, darunter auch Sam Altman, Chef von OpenAI, der ChatGPT entwickelte, und Geoffrey Hinton, einer der Gründerväter von KI. Auch drei deutsche KI-Professoren waren Mitunterzeichner. Die Aussage ist prägnant: Das Risiko einer Vernichtung durch KI sollte global Priorität haben neben anderen Risiken wie Pandemien oder Atomkriege.

 

 „Jeder Forscher und Entwickler sollte sich ethische Gedanken machen“, ist Luis Winckelmann überzeugt. Auch Tim Weisbarth meint das und bedauert, dass wegen des hohen Leistungsdrucks im Studium zu wenig Zeit dafür bleibt: „Mein Alltag lässt es leider nicht zu, mich damit intensiver zu beschäftigen.“ Die jungen Menschen, die hierzulande am meisten über Künstliche Intelligenz wissen, sie entwickeln und bauen, nehmen sehr ernst, wie Gebrauch und Missbrauch dieser mächtigen Technologie eng beieinander liegen. Sie sind startklar für ihren Beruf und bereit, mit ihrer Haltung und ihren hervorragenden Kenntnissen auf diesem Gebiet sich einzusetzen für eine positiv innovative, ethisch vertretbare Künstliche Intelligenz.

 

Publik Forum Nr. 1   12. Januar 2024