Guter Freund sein für sich selbst

Was tun mit den Wünschen nach Verständnis, Anerkennung und Respekt? Eine gute Freundschaft mit sich selbst ist nicht narzisstisch sondern eine wichtige Quelle von Mitgefühl und eine wesentliche Grundlage für die Nächstenliebe.

 

Können Sie geduldig und nachsichtig, gelassen und mitfühlend sein – nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst? Viele Menschen haben Hemmungen, sich selbst wichtig zu nehmen – aus Angst, damit als egoistisch zu erscheinen. Aber mit sich selbst achtsam und mitfühlend umzugehen ist etwas anderes: eine wichtige persönliche Ressource und die Grundlage dafür, dem anderen mit Wertschätzung begegnen zu können. Wissenschaftliche psychologische Forschungen, Philosophie und Religion beschäftigen sich damit, wie wertvoll die Freundschaft mit sich selbst ist. In der Meditation kann man eine solch achtsame, von Wohlwollen geprägte Haltung kennen lernen und pflegen.

 

„Niemanden behandeln wir so schlecht wie uns selbst.“ Diese These stammt von Kristin Neff, Professorin für Psychologie, die sich in ihren Forschungen seit vielen Jahren mit der Frage beschäftigt, wie Menschen mit sich selbst umgehen. Einer der Gründe, warum wir dazu neigen, uns selbst schlecht zu behandeln, liegt im menschlichen Gehirn. Für Signale, die von gefährlichen und negativen Situationen ausgehen, ist es besonders empfänglich. Im Sinne der Evolution eine sinnvolle Entwicklung, sicherte dies doch in früheren Zeiten das Überleben. Aber auch heute noch sehen wir oft nur das, was problematisch ist und was wir nicht können, anstatt uns selbst freundlich zugewandt zu bleiben, auch wenn wir in Schwierigkeiten sind.

 

Ein weiterer häufiger Grund, warum es vielen Menschen schwer fällt, Mitgefühl für sich selbst aufzubringen, liegt in den ersten Lebensjahren. Wenn Kinder ihre Bedürfnisse nach Zuwendung zeigen, die Bezugspersonen jedoch eher kritisieren oder nur wenig Einfühlung geben, kann sich die Fähigkeit zum Selbstmitgefühl nur wenig entwickeln. Häufig werden die harten oder mäkelnden Stimmen der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen verinnerlicht. Ein „innerer Kritiker“ wird dann schnell aktiv.

Von der Art und Weise, wie man  über sich denkt, hängen die seelische Ausgeglichenheit und Gesundheit wesentlich ab. Das gilt insbesondere für schwierige Zeiten: Menschen mit Selbstmitgefühl leiden seltener unter Depressionen und Ängsten, erholen sich besser von Schicksalsschlägen und sind insgesamt optimistischer. Dies belegen die Forschungen der  Psychologin Kristin Neff, die als anerkannte Expertin für Selbstmitgefühl gilt. 

 

 „Selbstfreundschaft“ war schon für die Philosophen der Antike ein wichtiges Element der Lebenskunst. „Freund zu sein für mich selbst“, so schrieb der römische Philosoph Seneca im ersten Jahrhundert nach Christus, beinhalte alles, was auch wichtig sei für die Freundschaft mit einem anderen Menschen: für sich da und aufrichtig mit sich selbst sein, sich um sich kümmern und auf diese Weise nie allein sein.

 

Wie aber kann man die Freundschaft mit sich selbst unterscheiden von Egozentrik und Narzissmus? Sind die Übergänge nicht fließend, besteht nicht die Gefahr abzugleiten in Selbstsucht? Auch damit beschäftigten sich die antiken Philosophen und nannten ein klares Unterscheidungsmerkmal: den Zweck der Beziehung. Ist die Selbstliebe nur Selbstzweck, so ist das egozentrisch. Ermöglicht die gute Beziehung zu sich selbst jedoch wertschätzende und freundschaftliche Beziehung zu anderen, so handelt es sich um eine hilfreiche und großmütige Selbstliebe. Dann ist die Freundschaft mit sich selbst eine Quelle der Kraft und ein sicherer Ort, von dem aus man auf andere zugehen, mit ihnen fröhlich und mitfühlend sein kann. Die Freundschaft mit sich selbst macht innerlich frei: man braucht den anderen nicht für die eigene Bestätigung oder um eine innere Leere zu füllen.

 

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Im neuen und im alten Testament erkennt und betont das Christentum diese beiden Seiten der Liebe (Matthäus 19,19 und 22,39, Lukas 10,27 und im dritten Buch Moses 19,18). Im Laufe seiner Geschichte jedoch kam es im Christentum zu einer Abtrennung. Der zweite Teil des Satzes wurde zwar gesagt und geschrieben, seine Bedeutung aber ignoriert oder indirekt missbilligt. Warum aber wurde trotz Jahrhunderte langer inbrünstiger Verkündung der Nächstenliebe ohne Selbstliebe der Egoismus nicht besiegt? Weil es kurzatmig und vergeblich ist, sich dem Nächsten zuzuwenden, wenn die Selbstliebe nicht die Kräfte zur Verfügung stellt, die verschenkt und verausgabt werden könnten.

 

Wie ist es möglich, (wieder) in Kontakt zu kommen mit der Kraft der Liebe, mit der ich mich selbst, den anderen und die Welt anschaue und so weit wie möglich verstehe? Gut reflektierte geistliche Wege haben hier eine lange Tradition. In Übungen zur Achtsamkeit und in der Stille der Meditation kann man sich selbst und seine persönliche Wirklichkeit wahrnehmen. Der äußere Druck, im gewohnten Rollenbild zu funktionieren, entfällt. Mit der Zeit kann eine bejahende Haltung gegenüber sich selbst entstehen.

„Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: staunenswert sind deine Werke“ heißt es in Psalm 139, Vers 14. In diesem Gebet begegnet man Gott und sich selbst in einer Haltung von Dankbarkeit. „Wunderbar gestaltet“ – so darf ich mich sehen, auch wenn ich mich selbst nicht so fühle. „Staunenswert sind deine Werke“ – so kann ich mich selbst und die Welt, in der wir leben, betrachten. Der staunende Blick auf Gottes Werke schützt auch vor narzisstischer Selbstbezogenheit: Bei aller Freiheit, selbst zu entscheiden und zu handeln, bei  Erfolg und Misserfolg, im Lieben und Leiden bin und bleibe ich ein Wesen in Gottes Schöpfung. Und der andere, die anderen auch. Diese Perspektive weitet den Blick und kann dabei helfen, die Verhältnisse realistisch wahrzunehmen, vielleicht auch, sie besser zu verstehen. Das ist eine gute Grundlage für echte Verbundenheit und alltagstaugliche Freundschaft – mit sich selbst und mit dem anderen.

 

Forum Loccum Nr. 2    Juni 2015