Der innere Friede als Coach

Ignatianische Exerzitien sind ein erprobter spiritueller Weg, um in der Stille zu guten Entscheidungen zu kommen. Der Jesuit Stefan Kiechle erklärt, wie das geht  - und dass man dabei immer auch etwas betrauern muss

 

Herr Kiechle, warum sollte man sich für Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens, interessieren, wenn man vor einer wichtigen Entscheidung steht?

 

Stefan Kiechle: Ignatius lebte im 16. Jahrhundert, zu Beginn der Neuzeit und der beginnenden Individualisierung. Er bietet einen Weg, der auf den Einzelnen eingeht, der Lebenserfahrung und spirituelle Neigungen ernst nimmt. Im Gespräch mit Gott kann man den eigenen, persönlichen Weg entdecken.

 

Wie macht man das?

 

Kiechle: Da ist zum Beispiel eine junge Frau, die vor ihrer Studien- und Berufswahl steht. Sie  fragt sich, ob sie Ärztin oder Lehrerin für Deutsch und Geschichte werden möchte. Sie ist intelligent, hat ein gutes Abitur und ausreichend Sitzfleisch. Beide Möglichkeiten locken sie. Von Freunden und Verwandten hört sie: „Mach´ doch Medizin, da kannst du Menschen helfen und Karriere machen!“ Aber sie findet auch die Vorstellung attraktiv, Lehrerin zu sein und jungen Menschen Literatur nahezubringen. Sie hat zwei gute Alternativen und macht Exerzitien mit der Frage: Welche Alternative ist die bessere?

 

Sich  vier Wochen zurückziehen in Stille, wer hat heute noch so viel Zeit?

 

Kiechle: Nur noch in Ausnahmefällen dauern heute Exerzitien so lange. Fünf Tage oder eine Woche sind ein gutes Maß. In einem Exerzitienhaus, in der Stille ist es möglich, innere Regungen und Stimmungen kommen zu lassen, sie anzuschauen, die Möglichkeiten nüchtern und ehrlich zu betrachten. Auch Fantasieübungen gibt es, bei denen man schaut: Wie und wo werde ich mit der jeweiligen Alternative leben? Welche geistliche oder menschliche Frucht wirkt sie bei den Menschen?

 

Solche Betrachtungen und Überlegungen sind anstrengend. Welche Unterstützung bekommt man?

 

Kiechle: Mit der geistlichen Begleitung, einer Schwester oder einem Bruder, gibt es jeden Tag ein Gespräch. Die geistliche Begleiterin gibt individuelle spirituelle Übungen für den Tag. Man ist während der Übungen in Stille und bringt die Fragen ins Gebet. Die Gruppe im Exerzitienhaus feiert täglich Eucharistie. Sonst ist man alleine, schaut und wägt ab: Was lockt mich mehr?  Was hat die besseren Argumente? Für eine gute Entscheidung braucht es Herz und Kopf. Die entscheidende Frage ist jedoch: Was zieht mich mehr an?

 

Nach Ignatius ist der „innere Friede“, den man spürt, wenn man eine Option erwägt, ein wichtiger Hinweis für eine gute Entscheidung. Besteht nicht die Gefahr, dass man die Suche nach Alternativen vorschnell beendet und Informationen vor allem so interpretiert, dass sie zum Gewohnten und zu den Vorlieben passen?

 

Kiechle: Diese Gefahr gibt es. Deshalb gehört es zur Vorbereitung der Exerzitien, nach mehreren Alternativen zu suchen und eine innere Offenheit für diese Möglichkeiten einzunehmen. Nach Ignatius geht es auch darum, sich innerlich von „ungeordneten Anhänglichkeiten“ frei zu machen, von egoistischen Zielen oder von Gefallsucht, wenn man zum Beispiel dem Papa gefallen möchte mit der Berufswahl.

 

Das klingt alles modern, so wie es auch Ratgeber oder Coaches heute sagen. Wie unterscheidet sich davon der spirituelle Weg?

 

Kiechle: Im Gespräch mit Gott zu schauen und zu entscheiden, darin liegt der Unterschied. Auch wenn man die spirituelle Dimension weglässt, kann man diese Instrumente verwenden. Wir weisen auf dem geistlichen Weg darauf hin: Wenn man sich für die eine Möglichkeit entscheidet, lässt man die anderen Alternativen zurück. Man sollte sich Zeit nehmen, sie zu verabschieden und ein wenig zu betrauern.

 

Wir leben im Turbokapitalismus und in Zeiten der Pandemie. Die Welt verändert sich schnell. Wenn man sich heute entscheidet, weiß man nicht, ob in ein paar Jahren die Voraussetzungen ganz andere sind. Kann Spiritualität in dieser Situation weiterhelfen?

 

Kiechle: Die ignatianische Methode kann nicht besser voraussehen als andere. Heute ist alles im Fluss, ständig kommt etwas Neues und man muss sich anpassen. Der ignatianische Weg lädt dazu ein, die Entscheidung im Vertrauen auf Gott zu treffen. Man wählt jetzt nach bestem Wissen und Gewissen. Das geht einigermaßen angstfrei, weil man sich in Gottes Führung weiß.

 

Dr. Stefan Kiechle SJ ist Beauftragter der deutschsprachigen Jesuiten für ignatianische Spiritualität . Er ist Buchautor und Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“.

 

 Publik Forum Nr. 19          8. Oktober 2021