Sexuelle Probleme sind der häufigste Anlass für eine Paartherapie. Aber oft steckt ein anderes Problem dahinter. Ein Fallbeispiel.
Sophie und Markus Witte sind beide Mitte dreißig, haben zwei kleine Kinder und sind seit acht Jahren verheiratet. Nach außen wirken sie meist wie eine fröhliche Familie. Dennoch haben sie haben sie um einen Termin in der Beratungsstelle der Diakonie in der westfälischen Stadt Bünde gebeten. Im Gespräch mit der Psychologin Cornelia Hähnelt (alle Namen geändert) schildern die Wittes zögerlich, dann aber zunehmend erleichtert und offen ihr Problem: Es hapert beim Sex, schon länger.
Während Markus Witte Sex möchte, gerne auch oft, hat seine Frau immer weniger Lust. Und im Moment will sie gar nicht mehr. Eine Zeitlang hat Sophie sich angepasst und den Wünschen ihres Mannes nachgegeben. Aber er merkte, dass sie nicht wirklich dabei war. Er fühlte sich abgewiesen, gekränkt, zieht sich nun ebenfalls von ihr zurück.
Beide widmen sich derzeit vor allem ihren häuslichen und beruflichen Aufgaben, denen sie pflichtbewusst nachkommen. Aber sollte das wirklich schon alles gewesen sein? Sind sie nur noch wegen der Kinder zusammen? „Früher waren wir ein glückliches Paar, gerade auch sexuell war es gut zwischen uns. Warum ist das jetzt alles anders?" fragt Markus Witte anklagend. Manchmal, so erzählt er der Psychologin, sei er aus lauter Frust schon richtig explodiert. Und seine Frau hat sich lautstark gegen seine Schuldzuweisungen gewehrt.
Probleme in der Sexualität gehören zu den häufigsten Gründen, warum Paare bei Therapeuten oder Beratungsstellen Hilfe suchen. Denn wenn es keine intime Nähe mehr miteinander gibt, wird das zumeist von beiden Partnern als irritierend, kränkend und trennend erlebt. Dass mit der Therapeutin eine dritte Person in Raum ist, die sowohl Markus als auch Sophie aufmerksam zuhört, verändert die beiden. Markus erfährt mit Erstaunen, wie es seiner Frau in der Beziehung zu ihm ergeht. Und Sophie verfolgt fast verwundert die Schilderungen ihres Mannes, hört, was er denkt und fühlt. Die Therapeutin aber versucht, den tatsächlichen Problemen dieser Partnerschaft auf die Spur zu kommen. Denn die tiefere Ursache liegt häufig nicht im Sexuellen. Wenn einer keine Lust mehr hat, stellt ist die Frage: Worauf hat er oder sie keine Lust mehr? Die tiefere Ursache liegt häufig nicht im Sexuellen sondern in anderen Lebensbereichen. Die Sexualität ist dann wie eine Bühne, auf der ein anderer Konflikt ausgetragen wird.
„Wie war das, als Sie noch Lust hatten auf Erotik und Sex mit Ihren Mann? Wie lebten Sie da?“ fragt die Beraterin.
Es zeigt sich: Als Sophie noch Lust hatte, waren die beiden noch fest entschlossen, die Aufgaben in der jungen Familie partnerschaftlich zu teilen. Spätestens seit das zweite Kind da ist, sind diese Hoffnungen zerstört. Markus Witte arbeitet den ganzen Tag als Ingenieur, macht eine Menge Überstunden, kehrt abends spät zurück, meistens wenn die Kinder schon im Bett sind. Dann will er entspannen – am liebsten mit seiner Frau. Aber darauf hat sie keine Lust, denn sie ist wütend. In ihren Augen kuscht ihr Mann vor dem herrischen Chef, der immer wieder Überstunden anordnet, und hat das Ziel, ein zugewandter Mann und Vater zu sein, verraten.
Markus Witte will sich rechtfertigen, als er seine Frau so hört. "Wir brauchen doch das Geld, das ich verdiene!" sagt er. "Ständig redest du über neue Anschaffungen - wer soll die denn bezahlen?" Die Psychologin hört aber auch die Anstrengung und Niedergeschlagenheit, die bei seiner Rede mitschwingen und teilt ihm diese mit. In diesem Moment fühlt der Mann sich erstmals verstanden und kann schließlich eingestehen: "Ja, ich fühle mich unzulänglich. "Ich kann diese Anforderungen von allen Seiten nicht mehr erfüllen. Spannender Sex, so stellt sich im Verlauf weiterer Beratungsstunden heraus, sei ihm da wie eine Lösung erschienen: "Damit wollte ich mir und meiner Frau beweisen, dass er immer noch was bewegen kann. Dass ich stark bin. Dass ich meinen Mann stehe".
Das sexuelle Problem war im Grunde nur ein Symptom für ein Zusammenleben, in dem es keine Lebenslust mehr gab. Therapeutin Cornelia Hähnelt sucht dann gemeinsam mit dem Paar nach Wegen, wie es wieder Lust am Leben gewinnen kann. Markus Witte beschließt, seinen nun Chef öfter entgegenzutreten und Überstunden abzulehnen. Er will sich auch auf andere Stellen bewerben, auch wenn er dort weniger verdienen sollte. Sophie Witte will möglichst bald in ihren Beruf als Logopädin zurückzukehren und die Kinder öfter von einer Kinderfrau betreuen zu lassen. Und das auch am Wochenende, damit Markus und sie wieder miteinander ausgehen können: mit Freunden, zum Tanzen, ins Kino oder einfach nur auf ein Glas Wein. Sich gegenüber sitzen, sich zuhören, sich in die Augen schauen, wieder in Berührung kommen. Nicht mehr und nicht weniger.
Publik Forum Nr. 6 24. März 2017