"Ich habe mich immer geschämt"

Kein Geburtstagsgeschenk, nur ein einziges Paar Schuhe, niemals im Verein: Jeremias Thiel wuchs bei überforderten Eltern in Armut auf. Heute studiert er in den USA - und weiß genau, was eine gute Kindheit ausmacht.

 

Jeremias Thiel, geboren 2001 in Kaiserslautern, wuchs in Armut auf. Seine Eltern waren langzeitarbeitslos und lebten von Hartz IV. Mit elf Jahren ging er auf eigene Initiative zum Jugendamt und bat darum, außerhalb seiner Familie aufwachsen zu dürfen. Er kam in ein SOS-Kinderdorf, machte 2019 das Abitur und studiert mittlerweile Umwelt- und Politikwissenschaften in Minnesota / USA. 

 

 

Herr Thiel, Sie wurden in eine arme Familie hineingeboren und sind  in Armut aufgewachsen. Wie haben Sie als Kind ihre Armut erlebt?

 

Ich habe gespürt, dass ich nicht dazugehöre und immer am Rand stehe. Zu den Geburtstagsfesten der anderen Kinder war ich fast nie eingeladen. Meine Eltern waren auch schon bekannt bei den anderen Eltern, sie wollten mit uns eigentlich nichts zu tun haben. Ich wäre auch gerne in einem Sportverein dabei gewesen, aber das ging nicht. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch weil meine Eltern mangelndes Interesse hatten, dass ich da mitmache. Ich war sozial isoliert. Das merkt man deutlich als junger Mensch.

 

Wie merkten Sie das und wie fühlte sich das an?

 

Ich hatte viele Schamgefühle. Ich schämte mich, weil ich, wenn ich ausnahmsweise doch mal zu einem Geburtstag eingeladen war, kein Geburtstagsgeschenk hatte. Ich schämte mich dafür, dass  ich keine Freunde zu uns nach Hause einladen konnte, weil meine Eltern das nicht erlaubt haben. Sie wollten wohl um Himmels willen vermeiden, dass jemand mitbekam, wie beengt und chaotisch wir lebten. Als ich als Zehnjähriger im Kommunionunterricht saß, hatte ich nur ein einziges Paar Schuhe und meine Füße müffelten. Ich war ständig beschäftigt, mich oder meine Füße zu verstecken. Dazu kam noch, dass ich mich in ein Mädchen verliebt hatte. Vor ihr schämte ich mich noch mehr wegen meiner Stinkefüße. Es sind da so viele Dinge, für die man sich ständig schämt.

 

Gab es für Sie als Kind auch mal unbeschwerte Zeiten, in der Freizeit vielleicht?

 

Freizeit gab es nicht, jedenfalls nicht im Sinne von gestalteter Freizeit. Auch in freien Stunden war da so eine Gedankenlast, weil ich viel Verantwortungsgefühl hatte. Meine Eltern waren nicht in der Lage zu arbeiten, lebten von Hartz IV, waren psychisch krank und haltlos. Meine Mutter war spielsüchtig und lebte in ihrer eigenen Welt, mein Vater war manisch-depressiv und mein Bruder war ADHS-krank. Wir sind Zwillingsbrüder, aber sehr verschieden. Es war meine Aufgabe, mich um meinen Bruder zu kümmern, meine Mutter kam überhaupt nicht mit ihm zurecht. Ich war auch verantwortlich, die Briefe vom Amt zu öffnen. Mit zehn Jahren habe ich zum ersten Mal einen Sanktionsbrief vom Jobcenter gelesen. Meine Eltern waren nicht zum Termin erschienen, es gab eine Kürzung um 25 Prozent. Mir war klar, dass jetzt 125 Euro fehlen. Das hat mich sehr beschäftigt und beunruhigt.

 

Als 11-jähriger Junge gingen Sie eines Morgens mit Ihrem Bruder auf eigene Faust zum Jugendamt und baten darum, zu Hause ausziehen zu dürfen und anderswo unterkommen zu können. Was bewegte Sie als Kind zu diesem verzweifelten Schritt?  

 

Es war an einem Abend in der letzten Woche der Sommerferien. Unsere Mutter war wieder einmal abgängig. Sie war dann von morgens früh bis abends spät nicht zu Hause. An diesem Abend wusste ich auf einmal, dass ich so keinen einzigen Tag mehr weitermachen kann. Mit meinem Bruder habe ich dann entschieden, dass wir am anderen Morgen zum Jugendamt gehen. Das Jugendamt kannte ich schon ein wenig über die Tagesgruppe.

 

Was für eine Gruppe war das?

 

Im zweiten Schuljahr hatte meine Lehrerin den Eindruck, dass ich mich auffällig verhalte und nahm Kontakt zum Jugendamt auf. Dafür bin ich ihr noch heute dankbar. Ein Sozialarbeiter sorgte dann dafür, dass ich einen Platz in einer speziellen Tagesgruppe bekam. Mittags ging ich nach der Schule in diese Gruppe. Sie war für Kinder mit besonderem Förderungsbedarf. Da gab es ein Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben, danach Zeit zum Spielen und Bezugspersonen zum Reden.  

 

Sie hatten deshalb die Hoffnung auf Hilfe?

 

Ich hatte eine Heidenangst und fühlte mich gegenüber meiner Familie wie ein Verräter. Dieses Gefühl hat mich auch in den Jahren danach immer wieder eingeholt.

 

Sie bekamen über das Jugendamt einen Platz im SOS-Kinderdorf in ihrer Heimatstadt Kaiserslautern, machten Abitur und sind mittlerweile Student an einem College in den USA. Sie haben den Weg aus der Armut nun geschafft?

 

"Sie haben es geschafft" - wie sich das anhört! !

Mit meinen 19 Jahren habe ich länger in Armut und Existenznot gelebt als in geordneten Strukturen. In unserer Gesellschaft ist immer das Einmalige, das Besondere gefragt. Aber wenn es so etwas Besonderes ist, der unmittelbaren Armut zu entkommen, dann ist das in meinen Augen ein starkes Indiz dafür, dass es eben nicht jeder schaffen kann. Oft wird auch der falsche Schluss gezogen, dass dieser Weg jedem offensteht. Aber wenn es nur mit so großer individueller Anstrengung geht, ist es ein Zeichen dafür, dass politisch und gesellschaftlich viel zu wenig passiert. Ich befürchte auch, dass die Armut meiner Eltern an meinen Bruder weiter vererbt wird. Das belastet mich schwer. 

 

Sie wurden mit 14 Jahren Mitglied der SPD, studieren jetzt Politische Wissenschaft und Umweltwissenschaft. Sie erheben Forderungen zur Bekämpfung von Kinderarmut. Was ist Ihnen besonders wichtig? 

 

Ich appelliere an Menschen, nicht nur an die Politik. Wichtig ist soziale Vernetzung, zum Beispiel mit Mentoren, die ihre persönliche Unterstützung, Förderung und auch ihr Netzwerk anbieten. Politisch ist besonders die ausreichende Finanzierung der Kommunen wichtig. Mindestens 2,7 Millionen Kinder wachsen in Deutschland in Armut auf. 23 Prozent der Kinder in meiner Heimatstadt Kaiserslautern kommen aus Familien, die von Hartz IV leben. Kaiserslautern ist wie viele andere Städte vom Strukturwandel betroffen, sie ist arm. Die Ausgaben für Soziales und für Jugendhilfe sind dort die höchsten Posten im Haushalt, da muss dann gespart werden. Aktuell bekommt Kaiserslautern aus Bundesmitteln 50 Millionen Euro pro Jahr für Soziales, die Ausgaben liegen aber bei 80 Millionen. Solche Städte müssten entschuldet werden.

 

Welche Hilfen waren für Sie als Kind besonders wirkungsvoll?

 

Ganz klar die Tagesgruppe, da habe ich erstmals verlässliche Strukturen erfahren. Armut bedeutet eigentlich immer ein Leben in Strukturlosigkeit. Es ist wichtig, dass die Hilfe rechtzeitig kommt, so dass man Struktur, Selbstorganisation und Selbstdisziplin noch rechtzeitig lernen kann. Die Kinder- und Jugendhilfe muss präventiv sein und schon im Kindergarten einsetzen. Aber solche Hilfeeinrichtungen kosten die Kommunen sehr viel Geld, sie müssten dafür viel besser finanziert werden.

 

Wegen der Corona-Krise sind Sie von den USA nach Deutschland zurückgekehrt und leben wieder in Kaiserslautern. Wie geht es Ihnen?

 

Alles andere als super. Ich habe ja kein Familiennetz, das mich auffängt. Zuerst habe ich zwei Wochen bei Freunden in Frankfurt übernachtet. Jetzt habe ich in Kaiserslautern ein Zimmer in einer WG. Das sind vier Wände, nur funktional. Es ist nicht mein Zuhause. Zudem ist es finanziell schwierig, ich bekomme über ein Mentorennetzwerk

Unterstützung für Miete und Lebensunterhalt. Mit sieben Stunden Zeitunterschied läuft der Unterricht meiner Universität digital, manchmal bis spät in die Nacht. Danach noch eineinhalb Stunden Videotelefonie mit meiner Freundin. Ich vermisse mein Leben in den USA sehr.

 

Hätten Sie in den USA bleiben können?

 

Ein hundertprozentiger Krankenversicherungsschutz ist dort viel zu teuer. In Deutschland haben wir den besten Gesundheits- und Versicherungsschutz. Aber es macht mich richtig verrückt, dass es keinen Plan gibt, wann man zurück kann in die USA.

 

Haben Sie wieder Kontakt zu Ihrer Familie?

 

Der Kontakt ist nie abgerissen. Mit meinem Vater telefoniere ich regelmäßig. Zu meiner Mutter habe ich so gut wie keinen Kontakt, zumal uns die gemeinsame Gesprächsebene fehlt. Für meinen Bruder versuche ich, eine Bezugsperson zu sein. Aber das ist schwer. Mich bedrückt die soziale Ungerechtigkeit zwischen meinem und seinem Leben.

 

Publik Forum Nr. 10                             29. Mai 2020