Die Augen verweint, der Blick traurig und der schmale Körper von Kummer gebeugt, so stand eines Morgens die 85-jährige Erna Hemscher in ihrer Wohnungstür. „Was ist mit Ihnen?“ fragte Pflegerin Petra Otte (alle Namen geändert), die vom ambulanten Pflegedienst kam. Heute vor einem Jahr sei ihr Ehemann gestorben, sagte die alte Dame, die in der nordrheinwestfälischen Gemeinde Hörstel lebt. Sie spüre heute besonders stark, wie allein sie sei und ihren Mann vermisse.
Eigentlich stand Duschen auf dem Pflegeplan an diesen Morgen. Duschen - das passt jetzt doch gar nicht, spürte Pflegerin Otte sofort. Deshalb schlug sie vor: „Lassen Sie uns in Ruhe mal hinsetzen, Frau Hemscher, zusammen einen Kaffee trinken, und über ihren Mann reden“. Die alte Dame war erleichtert. Das Gespräch und die Anteilnahme taten ihr gut.
Im Dienst spontan menschlich und mitfühlend zu reagieren, das war für die Pflegerin nur möglich, weil sie seit kurzem Mitglied im Team Buurtzorg ist. Dort arbeitet sie selbstbestimmt, hat mehr Zeit und teilt sich diese selbst ein. Buurtzorg (gesprochen Bürt-sorg) kommt aus dem Niederländischen und bedeutet Fürsorge in der Nachbarschaft. Gegründet im Städtchen Almelo, 40 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, ist man in den Niederlanden damit erfolgreich. Erste Buurtzorg-Teams entstehen zur Zeit in Hörstel, Lotte bei Osnabrück, Münster und Emsdetten. Buurtzorg ist eine kleine Revolution für das starre deutsche Pflegesystem, in dem Pflegerinnen und Pfleger in engem Zeittakt zu Dienstleistungen und viel Bürokratie verdonnert werden, in dem sie nur Verordnungen abarbeiten und nichts selbst entscheiden dürfen. Bei Buurtzorg rechnet man nach Zeitstunden ab, nicht nach Leistungskatalogen, nach denen zum Beispiel Waschen, Duschen oder Baden 20 Minuten dauern darf und 19,15 Euro kostet.
Die Pflegerinnen und Pfleger entscheiden im Einzelfall, was zu tun und zu lassen ist, ihre beruflichen Kompetenzen werden gestärkt. Buurtzorg- Teams organisieren ihre Arbeit selbst ohne direkte Vorgesetzte. Sie machen eigenständig Abrechnungen, Dokumentation und Neueinstellungen.
„Wir ermuntern auch die Patienten, selbst wieder mehr zu machen“ sagt Udo Janning, der für die Firma Sander-Pflege einige der Buurtzorg-Teams aufbaut. „Sie können sich morgens selbst frisieren und frische Wäsche aus dem Schrank holen. Dann habe ich mehr Zeit für Sie!“, könne zum Beispiel die Pflegerin nach eigener Einschätzung sagen. Neu bei Buurtzorg ist auch, dass die Pflegefachkräfte sich dafür einsetzen, ein kleines Netzwerk in der Nachbarschaft zu knüpfen. Angehörigen, Nachbarn, Freunde, vielleicht auch Pastor oder Gärtner können den Pflegebedürftigen unterstützten. Ziel: Die Fachkraft kommt nur für die Pflegeleistungen, für die sie tatsächlich gebraucht wird. Einfache Hilfen, zum Beispiel die abendliche Tablettengabe, können auch Mitglieder des Netzwerks geben. So sollen sogar Einsparungen möglich sein. Vor allem aber: Das Miteinander im Wohnviertel wird gestärkt, der Vereinsamung vorgebeugt und die ambulante Pflege neu aufgerichtet und erfrischt.
Publik Forum Nr. 20 26. Oktober 2018