Heilen auf Augenhöhe

Das Geheimnis der Gesprächspsychotherapie liegt in der Beziehung. Sie setzt auf mitfühlenden Kontakt zu den Patienten - und schafft so Raum für Veränderung.

 

Ein Mann, Mitte fünfzig, mit schütterem Haar und blassem Gesicht sitzt im elegant eingerichteten Zimmer einer psychotherapeutischen Praxis und blickt unsicher um sich. Sein Arzt hat ihn her geschickt – was will man hier von ihm, was wird jetzt passieren? Der Psychologe Dietrich Gräßner sitzt gegenüber, schaut ihn aufmunternd an und versucht ein erstes Gespräch mit ihm. Vergeblich. „Ich kann nicht über mich sprechen“ druckst sein neuer Patient schließlich heraus. „Ich kann nicht über mich sprechen. Auch nicht mit meiner Frau und nicht mit meinen Kindern.“ Es folgt zähes, langes Schweigen.

 

Als erfahrener Psychotherapeut verfügt Dietrich Gräßner über viele Fähigkeiten, eine seiner wesentlichen Qualifikationen ist die Methode der Gesprächspsychotherapie, heutzutage oft auch personzentrierte Psychotherapie genannt. Als Gesprächspsychotherapeut begegnet er seinen Klienten mit einer besonderen Haltung: auf Augenhöhe, mit bedingungsloser Zuwendung und  Einfühlung. „Haben Sie Angst? Angst vor mir?“ fragt er schließlich. Ein zaghaftes „Ja“  ist die Antwort.  Dietrich Gräßner ist bestürzt. Wie kann jemand Angst haben vor ihm, dem wohlwollenden, rundlichen, älteren Mann? „Wie habe ich Ihnen Angst gemacht?“ möchte er deshalb wissen. Eines der Merkmale der Gesprächspsychotherapie ist das Bemühen um einen echten Kontakt. Der Psychotherapeut soll sich nicht verstecken hinter der Rolle des Experten oder seiner therapeutischen Technik, sondern sich mit wirklichem Interesse in den Klienten hineinversetzen und ihn einfühlsam verstehen.

 

Auf den Psychologen Gräßner wirkt der Patient, je länger er ihn anschaut umso mehr wie ein kleiner Junge, der sich schämt. „Ist es jetzt wie in der Schule damals?“ fragt er, einer Intuition folgend. Ja, genauso ist das jetzt wieder.  Zögernd zunächst, aber dann erleichtert, erzählt sein Patient: Wie er von Anfang an in der Schule versagte,  die Mitschüler ihn hänselten, die Lehrer ihn vor versammelter Klasse demütigten. Wie Mutter und Vater sich von ihm auch abwendeten und so taten, als gäbe es ihn und seine Probleme nicht.

 

Heute ist bekannt, dass die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient eine der wichtigsten Faktoren für den Erfolg einer Therapie ist. Das belegen verlässliche Ergebnisse aus Forschung und Wissenschaft. Seiner Zeit weit voraus und ein Pionier auf diesem Gebiet war der amerikanische Psychologe Carl Rogers. Bereits in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellte er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, welche Art von Beziehung förderlich für den Patienten ist und wie diese entstehen kann. Schließlich entwickelte er daraus die Methode der non-direktiven Beratung und der Gesprächspsychotherapie, die seit Ende der 1960-ger Jahre auch in Deutschland viele Anhänger an Universitäten und in therapeutischen Praxen fand.

 

Geboren im Jahre 1902 und aufgewachsen in einer Familie mit strengen christlichen Einstellungen entzog sich der junge Carl der gut gemeinten Kontrolle seiner Eltern, indem er fast ununterbrochen Bücher las. Zunächst studierte er, noch ganz im Sinne seiner Familie, Theologie. Aber Reisen, Begegnungen auf internationalen Studentenkonferenzen und schließlich der Wechsel an eine liberale theologische Fakultät brachten Carl Rogers bis dahin festes Weltbild  ins Wanken. Trotz starker Konflikte schaffte er es, sich von den engen religiösen Vorstellungen seiner Eltern zu befreien. Er entschied, dass er nicht als Theologe arbeiten wollte. Weil man da von ihm verlangen würde, „an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben“ wie er später in Entwicklung der Persönlichkeit, einem seiner bekanntesten Bücher, schrieb. Er wurde Psychologe und interessierte sich zunächst besonders für den Bereich der Erziehungsberatung.

  

Da machte er erstaunliche Entdeckungen. Zwölf Jahre lang arbeitete er in einer Erziehungsberatungsstelle in Rochester, im Bundesstaat New York mit Jugendlichen, die aus prekären Verhältnissen kamen und zum Teil straffällig geworden waren. Im Kontakt mit ihnen stellte er fest, „dass der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtung einzuschlagen ist, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind.“ Die Erkenntnis, dass derjenige, der Rat und Hilfe sucht, bereits viel mitbringt um seine Probleme zu lösen, brachte Rogers zu einem ganz neuen Ansatz: Die erste Aufgabe des Beraters oder Therapeuten ist, die Gefühle des Klienten, zum Beispiel Wut, Angst und Hilflosigkeit, anzuerkennen und sich einzufühlen in dessen Lage. Wenn sich dieser als Mensch akzeptiert und in der Beziehung sicher fühlt, kann er mit dessen Hilfe ausloten, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen. Erste Schritte zur Überwindung der Probleme werden folgen. Dabei ist wichtig: der Berater oder Therapeut weiß es nicht besser, er gibt keine Ratschläge und drängt nicht auf ein bestimmtes Verhalten. 

  

„Wenn man sich auf Augenhöhe begegnet, auf die Person zentriert und nicht auf die Störung, dann wird man feststellen: der Patient ist der Experte seiner selbst“ ist Birgit Wiesemüller überzeugt. Sie ist Psychologin und Vorsitzende der Gesellschaft für personzentrierte Beratung und Psychotherapie. In ihre Praxis in Offenbach kommen Patienten aus allen sozialen Schichten, manche haben Schulden, einige auch Erfahrung mit dem Knast. „Wenn ich einem Kriminellen als Person begegne, dann heißt das nicht, dass ich seine Taten gutheiße. Aber nur mit solchem Wohlwollen kann er sich positiv entwickeln“ ist die Erfahrung der 56-jährigen Therapeutin.

 

Woher kommt dieser fast unbegrenzte Optimismus? Die Gesprächspsychotherapie beruht auf dem positiven Menschenbild der humanistischen Psychologie, Carl Rogers gehörte zu den wesentlichen Begründern dieses Konzepts. Beeinflusst von Wirtschaftswachstum und Fortschrittsglaube nach dem zweiten Weltkrieg, inspiriert vom der Philosophie des Humanismus und der Rebellion der 68-er Generation, sah man den Menschen als ein Wesen, das im Grunde stets danach strebt, sich positiv zu entwickeln. „Das war damals ein revolutionärer Ansatz und er ist auch heute noch hochaktuell“ meint Psychologin Wiesemüller. „Er besagt, unter günstigen Bedingungen entwickeln sich Menschen günstig. Das heißt, wir müssen für gute Bedingungen sorgen, nicht nur in der Therapie, auch in den Familien, in den Schulen, in der gesamten Gesellschaft.“

 

  Vorsicht bei traumatisierten Menschen

Allen guten Annahmen zum Trotz: Gibt es auch Fälle, in denen die Gesprächspsychotherapie nicht hilft oder sogar schadet? Ja, sagt der Psychologe Dietrich Gräßner. Für  Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen oder starken Traumatisierungen sei der offene Ausdruck eine Überforderung. Vor langer Zeit, als Dietrich Gräßner noch jung und in Ausbildung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf war, schickte man eines Tages von der psychiatrischen Station einen Mann zu ihm. Eine Haft im Stasi-Gefängnis Bautzen hatte diesen psychisch zerrüttet. „Zwei Stunden hat er von dieser grauenhaften Zeit erzählt und ich habe als Therapeut darauf empathisch reagiert“ erinnert sich Gräßner. Aber das viele Erzählen ließ die Schrecken der Haft in seinem Patienten wieder lebendig und überwältigend werden. Er reagierte mit Übererregung und musste mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Längst weiß der Osnabrücker Psychologe heute, dass solche Patienten zuerst eine psychische Stabilisierung nach Konzepten der Trauma-Therapie brauchen bevor sie, viel später, sich den erlittenen Traumata stellen können. 

 

In der Praxis gibt es manchmal bei der – nur scheinbar einfachen – Methode der Gesprächspsychotherapie noch einen weiteren Fehler in der Anwendung. „Rumrogern“ nennt man es despektierlich, wenn der Therapeut oder Berater mit dem Klienten zwar verständnisvoll, aber ergebnislos kommuniziert. „Als Berater oder Therapeut sind wir non-direktiv in Bezug auf die Ziele des Patienten, in Bezug auf den therapeutischen Prozess aber haben wir die volle Verantwortung“ stellt Birgit Wiesemüller als Vorsitzende der Gesellschaft für personzentrierte Beratung und Psychotherapie, klar. Gerade weil die Beziehung zum Patienten auf Einfühlung und Echtheit beruhe, könne man im therapeutischen Kontakt auch „sehr deutlich und konfrontativ“ sein.

 

Die größten Schwierigkeiten kommen für Gesprächspsychotherapeuten in Deutschland jedoch von außen, aus der Beurteilung durch hochrangige Funktionäre des Gesundheitswesens. Seit dem im Jahr 1999 beschlossenen Psychotherapeutengesetz gibt es zwar einen deutlich einfacheren Zugang zur Psychotherapie auf Krankenschein. Aber der vom Gesetzgeber als Organ der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen eingesetzte Gemeinsame Bundesausschuss schränkte gleichzeitig die Zahl der sozialrechtlich anerkannten Methoden drastisch ein. In einem höchst umstrittenen Verfahren entschieden dessen Mitglieder, Funktionäre aus Krankenkassen und traditionellem Medizinbetrieb, gegen die Gesprächspsychotherapie: Eine Abrechnung solcher Leistungen auf Krankenschein ist seitdem nicht mehr möglich, Klienten müssen die Kosten dafür selbst bezahlen.

 

 Zurück an der Universität

„Ein übles Spiel“ sei dieses Prüfungsverfahren gewesen, sagt Birgit Wiesemüller als Vorsitzende der Gesellschaft für personzentrierte Beratung und Psychotherapie. Aktuelle Studien, die die Wirksamkeit der Methode Gesprächspsychotherapie belegen konnten, seien dabei von vornherein nicht zugelassen und deshalb auch nicht berücksichtigt worden. Gesprächspsychotherapeuten sahen sich danach gezwungen, viele Fortbildungen in der Methode Verhaltenstherapie zu machen um damit eine Kassenzulassung als Verhaltenstherapeut zu erhalten.

 

Aber nach über 16 Jahren Auseinandersetzung, auch vor Gerichten, zeigt sich für die Gesprächspsychotherapie in Deutschland nun ein Silberstreifen am Horizont. Denn der Verlust an Vielfalt bei den psychotherapeutischen Methoden und die Dominanz der Verhaltenstherapie wird zunehmend als Verarmung erkannt, besonders an den Universitäten. Mittlerweile spricht sich die Bundespsychotherapeutenkammer dafür aus, alle wichtigen systemischen und humanistischen Verfahren an den Universitäten zu lehren. „Wir kommen wieder an die Unis zurück!“ ist Birgit Wiesemüller optimistisch. Allerdings: ob auf die wissenschaftliche auch die sozialrechtliche Anerkennung folgt und wann man Gesprächspsychotherapie auf Krankenschein bekommen kann, ist derzeit noch völlig offen.

 

Grundsätzlich haben Gesprächspsychotherapeuten, die Experten sind für das Anstoßen von persönlichen Veränderungs- und Erweiterungsprozessen, keinen  leichten Stand im modernen Gesundheitssystem. Tatsächlich steht die Gesprächspsychotherapie der Philosophie des Humanismus und der christlichen, jesuanischen Tradition vom Heil der bedingungslosen Zuwendung viel näher als einer auf schnelle Effizienz getrimmten Medizin.

 

Gerade deshalb könnte eine Anerkennung der Gesprächspsychotherapie nach dem Psychotherapeutengesetz auch Auswirkungen auf die Gesellschaft haben: Denn diese Therapiemethode stellt nicht nur feste Diagnosen, sie behandelt nicht nur Störungen, sondern öffnet Menschen für Dialog und schärft ihren Blick für die eigenen Entwicklungen und Ressourcen. Das kann viel verändern.

 

Publik Forum Nr. 7                       15. April 2016

 

 

 

Nicole und die Sehnsucht nach Nähe

 

Am Anfang ist es ihr peinlich. Doch in der Gesprächspsychotherapie spürt die Patientin, was sie wirklich braucht. Eine Fallgeschichte.

 

Mit vier Jahren musste sie oft allein zu Hause bleiben und nachts, wenn sie Angst hatte, war sie bei Mutter und Vater unerwünscht. Ihre Mutter schickte sie alleine weg – zum Einkaufen, zur Tante ins nächste Dorf, sogar zum Zahnarzt. Die Eltern trennten sich, ihr Vater zog weit weg. Geschwister hatte sie nicht, Freundinnen nur selten. Nicole Kösters (Name geändert) wuchs auf dem flachen Land in Schleswig-Holstein auf. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester lebte sie noch lange Zeit bei der Mutter. Einer musste ja zu Hause aufpassen, damit diese sich nicht allzu sehr betrank.

 

Eines Tages sitzt Nicole Kösters in einer Beratungsstelle in Rendsburg. Sie ist 28 Jahre alt und weiß nicht mehr weiter. Endlich hat sie sich getraut, zu Hause auszuziehen und lebt seit einiger Zeit mit ihrem Freund zusammen. Doch ihr Partner betrügt sie. Zuerst „nur ein bisschen“ wie sie sagt, dann immer öfter.

 

Die Psychologin, die ihr gegenüber sitzt, hört aufmerksam zu und stellt Fragen: Ist es vielleicht kein Zufall, dass sie sich einen Mann ausgesucht hat, dem sie nicht wirklich wichtig ist? Zuerst will Nicole Kösters davon nichts wissen, aber im Laufe der Sitzungen erkennt sie, dass sie sich unbewusst die ablehnende Haltung ihrer Eltern zu eigen gemacht hat. In der Sprache der Gesprächspsychotherapie: Die Botschaft der Eltern, dass sie mit ihren Bedürfnissen nach Zuwendung und Geborgenheit falsch sei, ist zum Teil ihres "Selbstkonzepts" geworden. Deshalb hat sie das Verhalten ihres Partners so lange geduldet.

 

„In der Beratungsstelle begegnete mir zum ersten Mal ein Mensch, der sich dafür interessierte, wie es mir ging" erinnert sich Nicole Kösters. „Bei meiner Therapeutin spürte ich, dass ich Gefühle hatte, dass meine Gefühle berechtigt waren und dass sie mir was zutraute.“Das Selbstkonzept aus der Kindheit, so erfuhr die Patientin, steht nicht für alle Zeiten fest. Es kann sich - auch im Zuge einer solchen Therapie - neu formen. "Am Anfang war es mir peinlich, dass ich Zuwendung und Verständnis brauchte", sagt sie. "Aber genau das hatte ich gesucht."

 

Während der Therapie trennt sie sich von ihrem Freund und lebt einige Zeit allein. Inzwischen hat Nicole Kösters einen neuen Partner, mit dem sie sich gut versteht, beide möchten sie Kinder miteinander.

 

Publik Forum Nr. 7                       15. April 2016