Unrecht vergeben und Abschied nehmen von der Opferrolle: Der Weg zur Vergebung ist lang und schmerzlich. Doch Psychologen wissen: Er führt in eine wunderbare Freiheit
Lange Zeit schrieb sie Briefe. Sie notierte ihre Gedanken, Gefühle und inneren Bilder und schickte sie an ihren Seelsorger. Es waren zarte Gesten einer Verwandlung: Gertrud W. wollte sich mit ihrer Vergangenheit versöhnen, die Briefe waren ihr Weg dazu. Zwölf Jahre nach ihrer Scheidung schrieb sie, damals 72 Jahre alt: »Ich kann nun die Dinge, die in meiner Erinnerung hochkommen – jetzt sind es auch viele gute! – in die Hände nehmen, als einen Teil meines Lebens bejahen und ganz behutsam in meinen imaginären Korb legen. Aber es ist kein Abfallkorb, sondern wie einer, in den man Früchte sammelt.« Sie hatte begonnen, auch die dunklen Seiten ihres Lebens anzunehmen. Zu Ende war ihr Weg zur Versöhnung damit aber noch nicht.
Im Alltag geschieht es viele Male: Bei all den Missverständnissen und Konflikten, die zwischen Kindern und Eltern, mit dem Partner oder der Partnerin und im Beruf entstehen, verzeiht man sich meistens unkompliziert. Ohne die Bereitschaft dazu wäre es schlicht nicht möglich, dass Menschen zusammen leben und arbeiten. Aber es gibt Lagen, wo Vergebung ein langer und herausfordernder innerer Prozess ist – bei schweren Verletzungen, lang anhaltenden Demütigungen und immer dann, wenn starke Machtgefälle herrschen. Wut und Groll, Bitterkeit oder auch Gefühlskälte belasten dann das Leben und die Gesundheit; Versöhnung wäre eine Erlösung. Wenn Versöhnung aber so gesund und wohltuend ist, warum gelingt sie dann oft nicht? Wie geht Vergebung?
Es gibt klare Voraussetzungen dafür: Vergebung geschieht auf eigenen Wunsch und freiwillig. Anders als oft angenommen braucht es dafür kein Eingeständnis, keine Bitte um Entschuldigung, ja nicht einmal Kontakt zum Täter oder zur Täterin. Oft geschieht Vergebung auch erst nach dem Tod desjenigen, der verletzt hat. Darauf weist die Psychologin Angelika Rohwetter in ihrem klugen Buch »Versöhnung. Warum es keinen inneren Frieden ohne Versöhnung gibt« hin.
Ihre Patientinnen und Patienten, die zum Teil als Kinder Gewalt, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, warteten oft lange Zeit auf ein Zeichen von Reue oder Einsicht der Täter: Fast immer vergeblich. Für sie war es befreiend, das Hoffen und Warten aufzugeben. Im Laufe des therapeutischen Prozesses wurde ihnen klar, dass sie der Situation des abhängigen Kindes entwachsen waren und als erwachsene Person selbst entscheiden und handeln konnten. »Ich muss ihnen das alles nicht mehr vorwerfen«, zitiert Angelika Rohwetter eine ihrer Patientinnen, die nun über ihre Eltern sagen kann: »Es ist vorbei – und irgendwie konnten sie wohl nicht anders handeln.«
Schluss mit dem Aufrechnen
Verzeihen bedeutet vor allem, auf etwas zu verzichten: Auf das Recht, dem anderen – laut oder leise, offen oder heimlich – Vorwürfe zu machen. Es bedeutet, das Aufrechnen sein zu lassen, seinen Opferstatus aufzugeben und die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Das fällt nicht leicht. Oft sei »das Recht auf Vorwurf, Wut und sogar Rache ein wichtiger Bestandteil des Ich-Erlebens«, weiß Angelika Rohwetter aus ihrer langjährigen Erfahrung als Psychotherapeutin. Sich davon zu verabschieden, löse zunächst oft Gefühle von Ratlosigkeit und Leere aus. Denn als Opfer sei man nicht nur schwach: Man habe die Macht, dass der andere sich schuldig und schlecht fühle, während man selbst sich als unschuldig und gut verstehen kann. Doch dafür zahlt man einen hohen Preis: Denken, Fühlen und Handeln bleiben rückwärtsgewandt; man verhindert damit Entwicklungen hin zu mehr Selbstvertrauen, Handlungsfähigkeit und Zufriedenheit im Leben.
Auch Gertrud W., eine tief gläubige Frau, merkte auf ihrem Weg zur Versöhnung, dass es galt sich zu verabschieden vom Jammern und Klagen. Sie schrieb: »Ich hatte damals gehofft, dass Gott mir einen Weg aus meiner Ehe zeigen würde, aber das war ein Irrtum. Er hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht bereit war, mit mir über meinen Mann zu reden, sondern nur über mich.« Sechs Jahre lang schrieb Gertrud W. dann bewegende Briefe, führte Gespräche mit ihrem Seelsorger und meditierte regelmäßig. All das half ihr, die Demütigungen, die sie in ihrer Ehe erduldet hatte, nach und nach seelisch zu verarbeiten. Als junge Frau hatte sie kurz nach dem Krieg in Hamburg geheiratet und drei Kinder bekommen, die sie sehr liebte. Jahrzehnte später schrieb sie über ihre seit langem geschiedene Ehe, es sei, als würde »eine Schlammlawine« an ihr vorbeiziehen: »Es tut sehr weh, Stück für Stück alles noch einmal zu durchleben, ohne es gleich wieder zu verdrängen. Ich muss mich fragen, wie es möglich war, dass eine Ehe so überhaupt 38 Jahre bestehen konnte.« Sie erkannte: »Ich hatte eine Methode entwickelt, Demütigungen ganz schnell hinunter zu schlucken, bevor mir das wirkliche Ausmaß bewusst wurde. Das erlebe ich erst jetzt.«
Nach tiefen Verletzungen ist Vergebung erst am Ende eines längeren inneren Prozesses möglich, in dem das Leid – vielleicht auch mit Hilfe eines Therapeuten oder Seelsorgers – wahrgenommen und gewürdigt wird. Denn Vergebung bedeutet nicht, das Leiden zu verharmlosen und sich selbst zu verraten: Unrecht bleibt Unrecht. Dies betonte stets auch der Arzt Konrad Stauss, langjähriger Leiter der renommierten Psychosomatik-Klinik Bad Grönenbach im Allgäu (s. Kasten). Stauss unterschied zwischen Vergebung und Versöhnung: »Vergebung ist ein innerseelisches Geschehen. Versöhnung ist ein zwischenmenschliches Geschehen.« Vergeben könne man immer, um »sich von der emotionalen Last der Nichtvergebung zu befreien, die die Herzen der Menschen oft über Jahre und Jahrzehnte vergiftet.« Zur Versöhnung dagegen gehörten zwei: »Einer, der sie anbietet, und einer, der sie annimmt. Man kann sich nur mit einem Täter versöhnen, wenn er die Verantwortung für seine Tat übernimmt und diese bereut.«
Bereit zu verhandeln
Einer der möglichen Wege dazu ist Mediation. Sie ist ein bewährtes Verfahren, um Konflikte zu klären und einvernehmliche Lösungen zu finden. »Wenn wir aufhören, andere bestrafen zu wollen, dann ist der Boden bereitet für Verhandlungen«, sagt Kurt Südmersen, der als Mediator in eigener Praxis und als Ausbilder für Mediation tätig ist. Zusammen mit seiner Frau Cornelia Timm arbeitete er in politischen Krisenregionen wie Myanmar, Ost-Timor und auf dem Balkan.
Im westfälischen Bad Oeynhausen bieten die beiden Mediation an für zerstrittene Paare und Familien, für konfliktbeladene Betriebe und Teams. »Viele Menschen wollen zu früh verhandeln, bevor sie sich der Aufgabe gestellt haben zu vergeben«, haben die Mediatoren beobachtet. Es sei aber »notwendig, die Geschichte zu erzählen und die Verletzung beim Namen zu nennen.« Betrug, Verrat, im Stich gelassen werden, Gewalt: Erst wenn der jeweilige Tatbestand ausgesprochen und damit der Kern des Geschehens begreifbar sei, werde Vergebung möglich. Danach hätten Verhandlungen gute Chancen auf ein von allen akzeptiertes und tragfähiges Ergebnis.
Dem anderen zu vergeben, sich selbst zu vergeben und um Vergebung zu bitten, seien unterschiedliche Prozesse, sagt Kurt Südmersen. Fast das Wichtigste sei, sich selbst zu vergeben, also die eigene Beteiligung am Geschehen zu erkennen und sich einzugestehen, dass man aus Angst, Wut, Verwirrung oder um eigene Bedürfnisse zu erfüllen dem anderen Schaden zugefügt hat. »Es ist schwierig, sich selbst als Täter wahrzunehmen, man verdrängt es«, weiß der Mediator aus 25-jähriger Berufserfahrung. »Die Erinnerung daran ist mit Scham und Schuld besetzt. Aber man hat etwas getan, das Konsequenzen hatte. Das muss man bearbeiten.«
Menschen neigen dazu, vor allem ihre Opfergeschichte zu tradieren. Besonders deutlich erkannte Südmersen das, als er mit zwei verfeindeten Volksgruppen auf dem Balkan arbeitete. Bis ins letzte Detail ihrer Jahrhunderte alten Geschichte wussten beide Gruppen, was ihr von der anderen Seite angetan worden war. Was jedoch komplett fehlte: Die Erinnerung an die eigene Täterschaft, die auf der anderen Seite zu Leid, Verletzung und Tod geführt hatte.
Die Frage nach dem Leid in der Welt und wie Erlösung letztlich möglich sei, ist wesentliches Thema aller Religionen. Menschen, die sich mit ihren Wunden und Narben, aber auch ihrer Schuld und Scham auseinandersetzen, finden deshalb oft neue Zugänge zum Leben und zum Glauben.
Als 73-Jährige schrieb Gertrud W.: »Wenn ich daran denke, dass ich die letzten Jahre gelebt habe, obwohl ein Teil von mir ganz tief unten im Verborgenen zu Eis erstarrt war, graut mir heute noch davor.« Sie wünschte sich, »verletzbar zu leben und das richtige Maß an Abgrenzung zu finden. Gern wäre ich wieder richtig frei, fühle mich aber noch nicht so. Ich hoffe auf Ostern.« Die Hoffnung auf Christus als Auferstehung zum Leben barg für sie die Kraft zur Vergebung.
Schließlich schrieb sie: »Auf meinem Weg, der hinter mir liegt, ist eine lange Lichterkette. Viele kleine Lichter, und zu jedem gehört eine gute menschliche Begegnung, ein Gespräch, ein Geschenk, ein Brief, eine Umarmung oder auch nur ein Wort, ein Blick, ein Gebet. Das hat mich unbeschreiblich glücklich gemacht.«
Sie hatte es geschafft. Sie war frei.
Publik Forum Nr. 6 23. März 2018