Technik pflegt nicht

Kann Künstliche Intelligenz das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren? Der Besuch in einer Demenz-WG zeigt: Viele Versprechen erweisen sich als teure Illusion

 Aufrecht, das graue Haar sorgfältig frisiert, ein fein gezeichnetes Fältchengesicht, so steht Frau Krömer im großen Wohnzimmer der Pflege-WG; sie blickt verunsichert um sich. Ilona Albin tritt auf sie zu, sagt fröhlich »Guten Morgen«, umarmt die alte Frau und zeigt ihr die große schwarz-weißen Plüschkatze, die sie auf ihrem Arm trägt. »Das ist Mohrle«, sagt Ilona Albin, die Pflegerin. »Mohrle saß draußen vor der Tür, da habe ich sie reingelassen.« Die alte Frau wirkt abwesend. Sie ist demenzkrank, wer sich mit ihr unterhalten will, braucht Geduld. »Sie hatten doch Katzen zuhause,« fährt Ilona Albin fort, »als Kind auf dem Bauernhof, da hatten Sie auch Katzen.« Frau Krömer* wendet ihr Gesicht der Plüschkatze zu. »Wollen Sie Mohrle mal nehmen?« Ein Nicken, sie greift zu – und reißt sofort erschreckt die Augen auf: »Oh, viel zu schwer!« Die altersschwachen Arme können das Plüschtier nicht halten.

 Vor sechs Jahren hat die Diakonie in Gütersloh Justocat angeschafft, so nennt der Hersteller RobiCare die Plüschlatze, in der eine gepolsterte Robotereinheit verbaut ist, die von Künstlicher Intelligenz gesteuert wird. Justocat soll bei der Pflege von fortgeschritten an Demenz erkrankten Menschen helfen, die Arbeit mit der Biografie unterstützen. Große Augen, putzige Schnurrhaare, weiches Fell: Das Tier ist niedlich und lädt zum Kuscheln ein. Es kann Atmen und Schnurren simulieren und in verschiedenen Lautstärken miauen; mittels Sensoren merkt es, wenn es gestreichelt wird. Die Beschäftigung mit der Roboterkatze soll angenehme Erinnerungen und Gefühle wecken, die der demenzkranke Mensch einst mit Katzen verband. Das wiederum soll ihn oder sie zur Kontaktaufnahme und Kommunikation anregen. Mit Motorblock wiegt das Therapie-Tier 2,5 Kilogramm – weniger als eine echte Hauskatze. Für ihre Zielgruppe, alte und geschwächte Patienten, ist sie trotzdem oft zu schwer.

 

Ein Schälchen Milch für das Plüschtier

 Roboter, Künstliche Intelligenz und digitale Modernisierung werden seit einiger Zeit als zukunftsorientierte technische Lösung für den Pflegenotstand angepriesen. »In wenigen Jahren haben wir in Deutschland mehr 80- als 50-Jährige« sagt Ipke Wachsmuth, Professor an der Universität Bielefeld und Experte für Künstliche Intelligenz. Da läge es nahe, das schon heute knappe Pflegepersonal durch neue Technologien zu entlasten und teilweise auch zu ersetzen. Auf Foren, Podien und Messen sprechen Informatiker und Mathematiker, Pflegewissenschaftler, Heimleiter und Ethiker über die neuen Möglichkeiten der KI, der Künstlichen Intelligenz.

  Nur fehlen bislang in der Debatte die Menschen, um die es geht: Pflegerinnen und Pfleger, pflegebedürftige und behinderte Menschen. Dabei kann die Aussicht auf eine zunehmende Technisierung der Pflege gerade bei den Menschen Ängste und Beklemmungen auslösen, die auf Hilfe angewiesen sind: Werden wir bald von Robotern gepflegt? Rund um die Uhr über Bildschirme überwacht? Wo bleibt die menschliche Zuwendung?

 In der Demenz-WG im westfälischen Gütersloh kommt eine Praktikantin mit einer grauen Plüschkatze auf dem Arm in den Gemeinschaftsraum. »Nehmen Sie doch lieber diese hier«, wendet sich Pflegerin Ilona Albin, kurze braune Haare, sportlicher Typ,  wieder Frau Krömer zu. Bei der grauen Katze wurde der Motorblock herausgenommen, damit sie leichter ist. Die alte Frau streckt vorsichtig ihre Arme aus und drückt das Tier an ihre Brust. Ein verhaltenes Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Hat Mohrle Hunger? Hat sie schon gefrühstückt?« Ilona Albin möchte wieder an Erinnerungen bei ihrer Patientin anknüpfen. Aber Frau Krömer schaut nur ratlos. »Wir können an der Theke fragen, ob sie Milch für Mohrle haben«, schlägt Albin vor. Die junge Servicekraft gießt etwas Milch in ein Schälchen und stellt es auf die Theke. Doch Frau Krömer hat das Interesse an dem Plüschtier verloren. »Wann sehen wir uns wieder?« fragt sie. »Zum Essen«, antwortet Albin. »Wo ist das?« – »Hier, wo Sie mit Ihren Füßen auf dem Boden stehen.«

 Die an Demenz erkrankte Frau lebt erst seit drei Monaten in dieser Einrichtung. In ihrer unsicher gewordenen Welt braucht sie Orientierung und Zuwendung. Wichtig für sie sind die zugewandten, zuverlässig anwesenden und fachlich gut qualifizierte Pflegekräfte. Aber diese fehlen oft. Viele Stellen in der Pflege bleiben unbesetzt, weil der Beruf psychisch und physisch anstrengend, in aller Regel mit Schichtdienst verbunden und schlecht bezahlt ist. Roboter könnten dem Pflegenotstand abhelfen, hoffen viele Planer im Gesundheitswesen.

 

 Die menschliche Maschine

 Im Netz, in Werbefilmen und anderen Medien sieht man überwiegend Bilder von Robotern in menschenähnlicher Gestalt. Humanoide Roboter mit Augen, Armen und Leib sehen meistens freundlich aus. So wie »Pepper«, der auch Sätze sprechen und herumfahren kann. Pepper wird auf Messen und in Altersheimen präsentiert. Man sieht auch Darstellungen von Robotern mit metallenen Händen und Fingern, die den Arm eines Menschen berühren. So entsteht der Eindruck, als könnten Roboter bald schon Blutdruck messen, Patienten das Essen servieren oder – wie Justocat oder die Roboter-Robbe Paro – als interaktives, mit KI ausgestattetes Schmusetier zur Kommunikation anregen und sinnvoll beschäftigen.

 »Robotische Systeme mit Menschen als Zielobjekt sind spannend auf der technischen Seite«, sagt Daniel Flemming, Professor für Informationstechnologie in Pflege und Sozialer Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. Aber ist Robotik auch gut für Menschen? Falls ja, für wen und in welchen Situationen? Ist ihr Einsatz beim vulnerablen Personenkreis der Kranken und Pflegebedürftigen ethisch vertretbar? »Im Grunde ist es eine technikgetriebene Entwicklung,« sagt Flemming selbstkritisch. Oft gehen die Initiativen, KI-basierte Technologien und Roboter in der Pflege zu testen oder zu kaufen, von Universitäten, Hochschulen und Unternehmen aus. Die Leitungen der Pflegeeinrichtungen dagegen kämpfen mit chronischer Unterfinanzierung und Personalmangel. Das macht es schwer, sich für die Zukunft aufzustellen.

 

 »Milliarden werden verpulvert«

 »In den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren ist eine Pflegekraft durch einen Roboter nicht ersetzbar. Dafür ist die Interaktion zu individuell«, prognostiziert Informatikprofessor Flemming und dämpft damit Erwartungen, technische Entwicklungen könnten schon bald den Mangel an Pflegepersonal beheben. Dennoch haben Anträge für Projekte der Tech- Forschung gute Chancen, Forschungsgeld vom Staat oder der Wirtschaft zu bekommen, wenn sie genau dies versprechen: den Pflegenotstand zu verringern, den Herausforderungen des demografischen Wandels zu begegnen.

 Deshalb übt Sigrid Graumann scharfe Kritik an der gängigen Forschungspraxis; sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrats und Rektorin der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. »Milliarden werden verpulvert, weil Pflegebedürftige und Pflegekräfte nicht oder zu wenig an der Forschung beteiligt werden«, sagt sie. Nur die Zusammenarbeit zwischen denjenigen, die Technik entwickeln und denen, die sie nutzen, könne zu Lösungen führen, die den Bedürfnissen in der Pflege entsprächen, so Graumann.

 »Nun ist die Katze halt mal da«, sagt Pflegerin Ilona Albin trocken. Die Katze sei »Tüddelkram«, sagt sie trocken[GS5] , sie könnte gut auf sie verzichten. »Unsere Bewohner wollen lieber eine Umarmung, auch mal tanzen oder einen Spaziergang machen. Damit fühle auch ich mich wohler«, sagt die 63-jährige. Aus mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung weiß sie: Patienten in der Langzeitpflege haben vor allem Einsamkeitsprobleme und ein großes Bedürfnis nach menschlicher Nähe.

 

 Und dann ist der Akku leer

 In einem Zimmer im Erdgeschoss der WG in Gütersloh liegt blass, regungslos und versunken eine Bewohnerin im fortgeschrittenen Stadium der Demenz in ihrem Bett. Albin tritt an ihr Pflegebett und fährt es in Sitzposition. »Heute habe ich eine Katze mitgebracht«, sagt sie. »Sie kennen Katzen doch aus ihren Urlauben in Spanien, damals mit Ihrem Mann, da haben Sie in den Straßen bestimmt viele Katzen gesehen.« Ilona Albin legt die Katze neben die Patientin, so dass Arm und Hand das Fell berühren. Mittlerweile empfiehlt die Heimleitung, den Therapieroboter bei bettlägerigen Patienten einzusetzen. Im Bett spielt das Gewicht des Tiers keine Rolle.

 Frau Hansen öffnet ihre Augen, ihr Blick geht ins Nirgendwo, aber ein Finger streichelt langsam das Plüschtier. Per Knopf schaltet Ilona Albin die Robotereinheit an, die Katze schnurrt. Frau Hansen reagiert nicht darauf. Plötzlich ist es wieder still im Zimmer. Ilona Albin greift nach der Katze, öffnet den Reißverschluss am Bauch, will den Motor wieder starten. »Gestern erst habe ich den Akku voll aufgeladen, jetzt ist er schon wieder leer!«, sagt sie genervt. »Die Katzen haben wir schon ein paar Jahre, wahrscheinlich ist der Akku zu alt und taugt nichts mehr.«

 

 Wo KI tatsächlich hilft

 Wenn es Pflegeheimen nicht möglich ist, Akkus auszutauschen und einfachste Robotik technisch zu warten, wie sollen dort dann neueste Technologien mit Künstlicher Intelligenz funktionieren, wie eine komplexe Robotik? Die Einführung und Anwendung solcher Systeme bedarf in jedem Unternehmen erheblicher Ressourcen. Pflegeeinrichtungen aber haben diese kaum.

 »Technik pflegt nicht – das muss einem klar sein«, sagt Christophe Kunze, Professor für Gesundheitstechnologien an der Hochschule Furtwangen. »Aber sie kann die Pflegenden in ihrer Arbeit unterstützen und sie entlasten.« Diesem Anspruch könnten in Zukunft am ehesten KI-unterstützte Monitoring-Systeme entsprechen. Bei Patienten mit hohem Pflegegrad überwachen Geräte mittels Sensoren und Künstlicher Intelligenz die Atmung, das Herz und den Schlaf. Kommt es zu Abweichungen, die ein gesundheitliches Risiko darstellen, informiert das System das Pflegepersonal. Solche Technik könnte Pflegerinnen und Pfleger von Kontrollen, Messungen und Dokumentationen entlastet. Dann, so die Hoffnung, hätten sie mehr Zeit für persönliche Zuwendung zum Patienten.

 Monitoring-Systeme ließen sich auch einsetzen, um es älteren Menschen zu ermöglichen, möglichst lange selbständig alleine zu Hause zu leben. Über die Wohnung verteilte KI-unterstützte Kameras könnten registrieren, wenn man gestürzt ist und nicht mehr aufsteht. Das System wäre mit einer Notfallzentrale verbunden und könnte Vorfälle selbständig melden. Doch längst nicht alle Menschen werden sich solch komplexe Technik leisten können.

 Die Frage nach KI in der Pflege ist nicht nur eine technische, sondern hat auch soziale und menschliche Komponenten: Ist es wünschenswert, möglichst lange allein in einer technisch hochgerüsteten Wohnung zu leben? Sollten wir nicht stattdessen für tragfähige soziale Beziehungen sorgen? Technik kann nicht pflegen und keine Einsamkeit lindern. Sie kann nur – vorausgesetzt sie funktioniert zuverlässig – Pflege dort unterstützen, wo die menschliche Seite stimmig ist.

 

*Die Namen der WG-Bewohnerinnen wurden geändert.

 

Publik Forum Nr. 10         26. Mai 2023